Wer hinter Grand Army die üblichen Highschool-Intrigen vermutet, irrt: Fünf Jugendliche aus New York ringen mit ihrer Psyche, Rassismus und den Folgen sexualisierter Gewalt.

"Ladys, was ist besser: ein guter Fick oder ein guter Schiss? Stimmt ab!", steht auf der Wand einer Schulumkleide in der Brooklyner Highschool Grand Army. Eine Gruppe junger Frauen rappt lauthals Cardi B's Bodak Yellow. Und in einer der Klokabinen geht Joey vor ihrer Freundin Claire auf die Knie und führt ihre Finger in deren Vagina ein. Ein kurzes Gefummel und zack: Triumphierend zieht Joey ein benutztes Kondom aus der Scheide ihrer Freundin, das sich dort nach dem Sex verfangen hatte.

Mit dieser Szene beginnt Grand Army – eine der vielleicht wichtigsten Teenie-Serien der vergangenen Jahre. In neun Folgen seziert die Netflix-Produktion das Alltagsleben von fünf Teenagern: Joey, Dom, Sid, Jayson und Leila. Sie eint nicht viel, außer dass sie alle dieselbe öffentliche Schule in Brooklyn, New York, besuchen. Nur peripher berühren sich ihre Cliquen. Auf der Grand Army Highschool trennen sie verschiedene Coolness-Grade, Interessen, sozialer Status und Hautfarbe. Gemeinsam ist ihnen aber die Suche nach ihrem Platz in einer Welt, die mitunter hart und ungerecht zu ihnen ist. Und der Wunsch nach Anerkennung. Jede*r von ihnen struggelt dabei mit ganz eigenen Problemen: Ausgrenzung, Coming-out, Erwartungsdruck, psychische Gesundheit, Slutshaming und Missbrauchserfahrungen.

Die Handlung basiert auf dem Theaterstück Slut: The Play von Katie Cappiello, das 2013 auf dem New York Fringe Festival von der All-Girl Theater Company uraufgeführt wurde. Cappiello, die die Theatergruppe mitbegründete, hoffte, damit jungen Menschen und ihren Sorgen und Wünschen eine Stimme verleihen zu können. Auch bei Grand Army schrieb Cappiello mit und produzierte das Format gemeinsam mit den Produzenten Beau Willimon (House of Cards) und Joshua Donen (Gone Girl). Herausgekommen ist eine Coming-of-Age-Serie, die bereits als "das Gossip Girl einer neuen Generation" bezeichnet wurde: weniger weiß, weniger elitär, dafür feministisch, queer und kulturell divers.

Weniger weiß, weniger elitär

Leila (Amalia Yoo) ist die jüngste der fünf Hauptpersonen. Als adoptiertes Kind leidet sie zunehmend darunter, ihre wahre Identität vermeintlich nicht zu kennen und keinen für sie klaren Bezug zu einer Community zu haben. In China geboren, wuchs sie bei einem jüdischen New Yorker Paar auf. Um irgendwo dazuzugehören, lässt Leila vieles mit sich machen, was ein Mitschüler prompt ausnutzt. Leila wird von Gewaltphantasien heimgesucht, die in der Serie als Comic gezeichnet gezeigt werden. Ihr fehlt Halt. Und so wähnt sie bald die ganze Welt gegen sich, was zur Gefahr für sie selbst und andere zu werden droht.

Siddhartha "Sid" Pakam (Amir Bageria) geht in die Oberstufe, sieht gut aus und ist Teil des gefeierten Schwimmteams. Von einer Aufnahme an der Elite-Universität Harvard trennt ihn nur noch ein überzeugendes Motivationsschreiben. Mit seiner Langzeitfreundin führt er eine nach außen hin perfekte Beziehung. Doch statt mit seiner Freundin zu schlafen, masturbiert Sid heimlich zu Schwulenpornos. Nach einem Bombenanschlag in der Nähe der Schule fühlt er sich außerdem zunehmend unwohl auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Denn dort patrouillieren nun Polizei und Sicherheitskräfte, die vornehmlich nicht-weiße Menschen kontrollieren.

Auch Jayson (Maliq Johnson) erfährt als Schwarzer Jugendlicher immer wieder Rassismus. Gemeinsam mit seinem Kumpel Owen träumt er von einer Karriere als Saxofonist. Owen ist auf ein Stipendium angewiesen, während Jaysons Eltern ihn finanzieren könnten. Doch die Träume der beiden Freunde drohen zu platzen, nachdem sie ihrer Mitschülerin Dom einen Streich spielen und dafür hart bestraft werden.

Während eines Terroralarms, bei dem die Schüler*innen im Treppenhaus zusammensitzen, entwenden Jayson und Owen Doms Portemonnaie und werfen es sich gegenseitig zu. Doch ein Wurf geht daneben und so segelt die Brieftasche ins Erdgeschoss. Als Dom es wiederholt, fehlen darin 200 Dollar. Geld, das sie sich hart erarbeitet hat – sie frisiert in ihrem Viertel anderen Schwarzen Frauen die Haare –, und mit dem sie sich das College finanzieren will. Owen und Jayson werden daraufhin suspendiert.

In einem Interview mit Teen Vogue sagt Odley Jean, die Dom spielt, dass Szenen wie diese darauf abzielten, die unterschiedlichen Folgen für Vergehen von weißen und Schwarzen Menschen aufzuzeigen. Während die Strafe für Jayson und Owen vergleichsweise hart ausfällt, dürfen zwei weiße Mitschüler nach Vergewaltigungsvorwürfen schon kurz darauf wieder am Unterricht teilnehmen.

Anhand der Figur von Dom wird auf eine weitere Form rassistischer Diskriminierung in den USA aufmerksam gemacht. Dom möchte nach ihrem Schulabschluss Psychologie zu studieren, weil Schwarze Menschen in den USA in diesem Bereich unterrepräsentiert seien. Sie will das ändern und bewirbt sich bei einer Initiative, die sich speziell der mentalen Gesundheit von Women of Color verschrieben hat. Im Bewerbungsgespräch sagt sie: "Oft bin ich einfach nur wütend. Aber das ist die eine Sache, die ich mir nicht erlauben kann. Denn dann bin ich, was andere erwarten, oder?" Dom beschreibt hier das rassistische Stereotyp der Angry Black Woman, das Schwarzen Frauen ihr Recht auf Wut und Emotion abspricht, indem es sie als irrational und destruktiv abstempelt. Um nicht so wahrgenommen zu werden, unterdrückt Dom ihre Wut und Überforderung.Überfordert ist Dom zu Recht: Sie hat super Noten, ist Captain des Mädchen-Basketballteams an ihrer Schule, passt auf ihre Nichten und Neffen auf, wenn ihre Schwester und Mutter gerade arbeiten, und verdient sich ihr Taschengeld selbst.

Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt

Trotz zweier männlicher Hauptfiguren, stechen in der Serie die weiblichen Charaktere deutlich hervor – vor allem Dom und Joey (Odessa A’zion). Joey ist selbstbewusst, willensstark und sehr beliebt. Die anderen Mädchen bewundern sie für ihre Aktionen, zum Beispiel einer Freundin ein benutztes Kondom aus der Vagina zu ziehen. Jungs suchen ihre Nähe.

Nachdem ihr eine Lehrerin vorwirft, jede Möglichkeit zu nutzen, um ihren Körper zur Schau zu stellen, weil sie während des Terroralarms in kurzer Sportbekleidung außerhalb der Turnhalle auftaucht, plant Joey mit ihren drei besten Freunden Luke, George und Tim eine Aktion unter dem Hashtag #freethenipple. So taucht sie am nächsten Tag ohne BH und einem weißen Top mit eben jenem Slogan in der Schule auf. Die Reaktion der besagten Lehrerin lässt nicht lang auf sich warten: Joey wird von ihr geslutshamed und aus dem Unterricht geworfen. Als der Rektor Joey für ihre Verhalten rügen will, kontert sie selbstbewusst.

Doch Joeys Alltag ändert sich schlagartig, als sie von Menschen in ihrem Umfeld sexuell missbraucht wird. Außer ihren Eltern scheint ihr niemand zu glauben, Joey wird von Scham und Schuldgefühlen geplagt. Neben dem persönlichen Umgang mit Missbrauchserfahrungen thematisieren die Macher*innen hier auch das Problem einer Täter*innen-Opfer-Umkehr. Denn wegen ihres sonst so extrovertierten Verhaltens werden Joeys Schilderungen von vielen angezweifelt.

In Grand Army haben die Macher*innen Charaktere geschaffen, die im Vergleich zu anderen Teenie-Formaten wie Gossip Girl, Thirteen Reasons Why, O.C. California oder Riverdale eine breite Identifikationsfläche bieten. Neben Schulstress und ersten sexuellen Erfahrungen, werden hier Verzweiflung, Unsicherheiten und Ängste junger Menschen ernst genommen und mit einem hervorragenden Soundtrack inszeniert. Das Ergebnis ist kein Format, das zeigt, wie Erwachsene sich Jugendliche heutzutage wohl vorstellen, sondern eine realistische Bestandsaufnahme adoleszenter Wirklichkeit. Dass das so gut gelungen ist, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Katie Cappiello und ihr Team im Vorfeld über Jahre Erfahrungsberichte von Jugendlichen sammelten, die insbesondere in die Figur Joey einflossen. Der Aufwand hat sich gelohnt: Grand Army hat das Zeug zur Teenie-Serie des Jahres.