Seit meiner Pubertät habe ich diesen Wunsch: Besonders zu sein. Besonders klug. Besonders sportlich. Besonders beliebt. Besonders erfolgreich. Vor allem als Jugendlicher hatte ich das starke Bedürfnis, aufzufallen und zu glänzen. Das ist sicherlich ein Wunsch, den viele Menschen haben.

Ich glaube jedoch, dass er bei mir noch einmal besonders stark ausgeprägt ist. In bestimmten Phasen meines Lebens ist aus dem Wunsch ein Drang geworden – und oft sogar ein Druck. Dass er bei mir so stark ausgeprägt ist, hängt mit meiner Behinderung zusammen. Wie – das will ich im Folgenden erklären.

Eine sichtbare Behinderung zieht Blicke auf sich

Ich habe eine Hemiparese. Das ist eine halbseitige spastische Lähmung, die dazu führt, dass ich mich ungewöhnlich bewege – dass ich hinke. Meine Behinderung ist also sichtbar und eine sichtbare Behinderung zieht Blicke auf sich.

Der US-amerikanische Fotograf Kevin Connolly, der seit seiner Geburt keine Beine hat und meistens auf einem Skateboard unterwegs ist, hat es sich eines Tages zur Aufgabe gemacht, alle Menschen zu fotografieren, die ihn anstarrten. Es ist eine Ausstellung mit dem Titel The Rolling Exhibition entstanden. Sie umfasst über 32.000 Fotos. Mehr als 32.000 Fotos von mehr als 32.000 Menschen, die ihn angestarrt haben. Für Connolly gehören die Blicke der anderen zum Alltag, sobald er das Haus verlässt. "Jede*r macht es. Es ist normal. Es ist Neugierde", schreibt er auf seiner Homepage.

Egal, was ich tat, egal, was ich sagte, egal, wie ich mich anzog, in den Augen der anderen blieb ich anders. Besonders. Mein Wunsch nach Unauffälligkeit blieb unerfüllt.

Auch wenn ich eine andere Beeinträchtigung habe als Connolly, kenne ich diese Blicke. Blicke, die mir vermittelt haben: Du bist anders. Es war mir nie möglich,  in der sogenannten grauen Masse unterzutauchen, als völlig durchschnittlich durchzugehen. Die Blicke auf der Straße, im Supermarkt, in der Straßenbahn und überall haben mir vermittelt: Du bist besonders.

Als kleines Kind hatte ich nur einen sehnlichen Wunsch: Völlig normal zu sein. Was auch immer das ist. Ich wollte unbedingt so sein wie die anderen. Durch nichts auffallen. Die Sache hatte einen Haken: Die Erfüllbarkeit dieses Wunsches hing von den anderen ab. Und immer wieder musste ich feststellen, dass sie mich als anders, besonders ansahen. Die Blicke hörten nicht auf. Die Fragen hörten nicht auf: "Warum läufst du so komisch?", "Warum sprichst du so komisch?" Egal, was ich tat, egal, was ich sagte, egal, wie ich mich anzog, in den Augen der anderen blieb ich anders. Besonders. Mein Wunsch nach Unauffälligkeit blieb unerfüllt.

Zwei Arten des Besonders-Seins

Irgendwann, in meiner beginnenden Pubertät, habe ich mir gesagt: Wenn ich schon angeblich besonders bin, dann will ich wenigstens beeinflussen, in welcher Weise ich es bin. Denn es gibt zwei Arten des Besonders-Seins.

Es gibt das Besonders-Sein als Zuschreibung von außen – eben durch die Blicke und Fragen, die dir vermitteln: Du bist anders. Diese Art des Besonders-Seins ist ein Besonders-Gemacht-Werden, auf das man keinen Einfluss hat. Unangenehm wird es dadurch, dass man nie so genau weiß, ob in dem "Du bist anders" auch ein "Du gehörst nicht dazu" mitschwingt.

Je mehr ich in die Pubertät kam, desto mehr versuchte ich dem Besonders-Gemacht-Werden ein Mich-Besonders-Machen entgegenzusetzen.

Es gibt aber noch eine zweite, empowernde Art des Besonders-Seins, bei der man selber sagt: Ich will gar nicht dazu gehören. Ich will gar nicht so sein wie die anderen. Diese Art des Besonders-Seins ist ein Sich-Besonders-Machen. Im Unterschied zum Besonders-Gemacht-Werden sucht man sich das Sich-Besonders-Machen aus. Es ist selbstgewählt. Es ist selbstbestimmt.

Je mehr ich in die Pubertät kam, desto mehr versuchte ich dem Besonders-Gemacht-Werden ein Mich-Besonders-Machen entgegenzusetzen. Ich liebte es, vor Publikum aufzutreten. Ich begann Theater zu spielen und genoss das Scheinwerferlicht und die Blicke auf mir. Ich hatte nicht länger den Wunsch, unterzutauchen und unauffällig zu sein, sondern ich wollte jetzt das Gegenteil: Ich wollte auffallen. Und zwar nicht durch meine Behinderung, sondern durch meine Talente.

Behinderte Menschen werden oft für ganz alltägliche Dinge bewundert

Als ich etwa 13 war habe ich mit meiner Schulklasse eine ungefähr fünf Kilometer lange Wanderung unternommen. Mein*e Lehrer*innen waren ganz begeistert, dass selbst ich diese Wanderung geschafft hatte. Und nicht nur das: Dass ich über weite Strecken an der Spitze der Gruppe gelaufen war – trotz meiner Behinderung. Inspiration Pornnennt man das Phänomen, wenn Menschen mit Behinderung für Dinge bewundert werden, die für sie selbst völlig selbstverständlich sind.

Für mich war diese Wanderung eigentlich keine große Sache. Ich habe zu dieser Zeit in einem Leichtathletik-Verein trainiert. Wie ich aber immer wieder feststellte, war es für die Allgemeinheit keine Selbstverständlichkeit, dass ein körperlich behinderter Mensch sportlich sein kann. Wenn ich erzählte, dass ich Leichtathlet sei, stieß ich immer wieder auf Verwunderung, ja, Bewunderung. Das führte dazu, dass ich umso verbissener trainierte. Ich ging drei Mal in der Woche zum Training und gab alles – ich wollte allen beweisen: Auch ein Mensch mit Behinderung kann sportlich sein.

Auch auf intellektuellem Gebiet sind behinderte Menschen oft mit niedrigen Erwartungen konfrontiert. Die Grundschule verließ ich mit der Prognose, dass ich höchstens einen Hauptschulabschluss erlangen würde und dass ich am besten auf eine Förderschule gehen sollte. Mittlerweile habe ich einen Universitätsabschluss erlangt. Auf meinem Bildungsweg wollte ich immer wieder unter Beweis stellen: Auch ein Mensch mit Behinderung kann klug sein. Wenn Menschen mit Behinderung den Inspiration Porn verinnerlichen, wie es bei mir der Fall war, wollen sie genauso gut oder sogar besser sein als die nicht-behinderten Menschen in ihrem Umfeld.

Besonders hohe Erwartungen an Menschen mit Behinderung: "Wäre diese Person auch hier, wenn sie keine Behinderung hätte?"

Entgegen der Prognose meiner Grundschullehrer*innen machte ich Abitur und besuchte eine Universität. Je älter ich wurde, desto mehr bewegte ich mich in nicht speziell für behinderte Menschen vorgesehenen Zusammenhängen, sondern in regulären Bildungsinstitutionen. Dort war ich oftmals die einzige Person mit einer Behinderung und mir begegnete die Kehrseite des Inspiration Porns: War ich früher aufgrund meiner Behinderung unterschätzt worden, sah ich mich jetzt mit besonders hohen Erwartungen konfrontiert.

Ich hatte den Eindruck, dass Prüfer*innen, Lehrer*innen und Chef*innen, denen ich begegnete, eine besonders hohe Messlatte an mich anlegten, weil sie sich sagten: Wir wollen ihn genauso behandeln und bewerten wie die anderen. Das hat oft dazu geführt, dass ich strenger behandelt und bewertet wurde.

Die Autorin Laurie Penny schreibt in ihrer Streitschrift Zu allem fähig, zu Tode erschöpft, die von Birgit Kolboske für die taz aus dem Englischen übersetzt wurde, über den Leistungsdruck, der auf jungen Frauen und People of Color lastet. Laurie Penny schreibt: "Feministische Ideen durchzucken die Popkultur, doch junge Frauen stehen heute stärker auf dem Prüfstand als je zuvor." Ich möchte Pennys Analyse auf das Themenfeld Inklusion und Menschen mit Behinderung übertragen: Inklusive Ideen durchzucken die Popkultur, doch Menschen mit Behinderung stehen heute stärker auf dem Prüfstand als je zuvor.

Inklusion in ihrer momentanen Form bedeutet vor allem Leistungsdruck für die Menschen mit Behinderung, die das Privileg haben, jenseits von Förderschulen, Werkstätten und Wohnheimen am Leben, Lernen und Arbeiten unserer Gesellschaft teilhaben zu können. Oftmals sind sie die einzige Person mit einer Behinderung in ihrem Umfeld – in ihrer Schule, an ihrer Uni oder an ihrem Arbeitsplatz – und stehen so ganz besonders auf dem Prüfstand. Die unausgesprochene Frage lautet: Wäre diese Person auch hier, wenn sie keine Behinderung hätte?

Schließlich will ja niemand einen Menschen mit Behinderung nur aufgrund seiner*ihrer Behinderung einstellen, ausbilden oder als Freund*in haben. Das will auch kein Mensch mit Behinderung. Er*sie soll den Studienplatz, den Ausbildungsplatz oder den Arbeitsplatz bekommen, weil er*sie qualifiziert ist. Alles andere würde ihn*sie auf die Behinderung reduzieren. Aber – weil alle so bemüht sind, Menschen mit Behinderung eben nicht als behinderte Menschen, sondern als qualifizierte Menschen anzusehen, anzustellen oder auszubilden – entsteht ein ungemeiner Leistungsdruck für Menschen mit Behinderung, ihre Qualifikationen permanent unter Beweis zu stellen.

Verinnerlichter Erfolgsdruck

Egal, wo ich war, ich wollte immer beweisen: Ich bin hier nicht der Quotenmensch mit einer Behinderung, sondern ich bin hier wegen meiner Fähigkeiten. Ich wollte immer zeigen: Ich bin ganz besonders. Ganz besonders fähig. Ganz besonders qualifiziert. Ich begann, höchste Ansprüche an mich zu entwickeln.

"Wir haben uns dazu hinreißen lassen zu glauben, dass der Druck, höchste Leistungen in jedem Bereich des spätkapitalistischen Lebens – sei es in der Schule, bei der Arbeit oder in der Liebe und Beziehung – zu erbringen, gleichbedeutend sei mit Freiheit für Frauen", findet die Autorin Laurie Penny. Ebenso wird der Leistungsdruck, der auf ein paar wenigen Menschen mit Behinderung lastet, die der Gesellschaft ihre Inklusivität beweisen sollen, mit ihrer Freiheit und Teilhabe verwechselt.

Penny schreibt: "Heute sind junge Frauen, queere Personen und People of Color dazu erzogen worden, hart zu arbeiten, schnell zu denken und gegen enorme Widerstände anzugehen, wenn sie überleben wollen (…)." Auch Menschen mit Behinderung werden dazu erzogen, immer eine extra Schippe Brillianz, Talent und Eloquenz draufzulegen, um einem Leben in Separation zu entgehen.

Die Karriere-Inklusion

Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das ich in Anlehnung an den*die Journalist*in und Essayist*in Hengameh Yaghoobifarah als Karriere-Inklusion bezeichnen möchte. Yaghoobifarah kritisiert in ihrem Text Euer Feminismus ist nicht mein Feminismus den "Karriere-Feminismus", der Frauen zuruft, dass sie es "in Chefetagen schaffen, wenn sie es denn nur genug wollen und sich ausreichend in ihre Karriere reinhängen", und den Druck, den dieser für Frauen erzeugt.

Nicht alle Menschen mit Behinderung müssen berühmt werden. Nicht alle wollen berühmt werden. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderung auch ganz durchschnittlich und mittelmäßig sein dürfen.

Die Karriere-Inklusion schreit behinderten Menschen zu: Wenn ihr euch nur genügend anstrengt, könnt ihr es ganz nach oben schaffen. Sie lässt Schauspieler*innen und andere Stars mit Behinderung über unsere Bildschirme flimmern und erzählt uns: Auch Menschen mit Behinderung können berühmt werden.

Das Problem bei der Karriere-Inklusion ist der Druck, den sie für behinderte Menschen erzeugt. Nicht alle Menschen mit Behinderung müssen berühmt werden. Nicht alle wollen berühmt werden. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderung auch ganz durchschnittlich und mittelmäßig sein dürfen. Eine Gesellschaft, in der es für behinderte Menschen mehr Optionen gibt, als unterschätzt zu werden oder aber berühmt zu sein.