Das eigene Ding durchziehen, autark leben, des eigenen Glückes Schmied*in und vollumfänglich unabhängig sein – diese Sehnsucht mag nicht nur für Menschen verlockend klingen, die mit der globalen Gesamtsituation überfordert sind, sondern verfängt auch in der komplizierten Welt der Gefühle.

Doch sich in die abgelegene Hütte zurückziehen zu wollen – ob nun real oder imaginär –, dabei niemanden zu brauchen und friedlich, selbstgenügsam und allein vor sich hin zu existieren, ist eine Vorstellung, die ihre Wurzeln nicht selten in einer Form von Schmerz hat.

Denn genauso, wie es einen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit gibt, gibt es auch einen Unterschied zwischen Unabhängigkeit und Flucht.

Das Problem von "Ich brauche niemanden"

Unabhängigkeit kann durchaus sehr erfüllend sein. Vorausgesetzt, sie ist eine bewusst und ausgewogen getroffene Entscheidung und keine instinktive Reaktion auf erlebte Verletzungen. Genau das sei jedoch oft der Fall, wie Nina Deißler, Expertin und Coachin für die Partner*innensuche, erklärt: "Die unmittelbare Reaktion auf Schmerz – auch auf seelischen – ist, davor zurückzuweichen. Hat man in einer Beziehung mit einem Menschen Schmerz erfahren, verbindet man oft die Situation ,Beziehung' mit ,Schmerz'."

Daher sei es eine nachvollziehbare Reaktion, Beziehungen und Nähe zu meiden, um keinen weiteren Schmerz erleben zu müssen. Und je tiefer die Verletzung, desto größer auch das Bedürfnis des verwundeten Persönlichkeitsanteils, sich zu verstecken. Insofern kann die Sehnsucht nach ultimativer Unabhängigkeit durchaus traumabedingt sein.

Das klingt natürlich viel weniger lässig als ein hyperindividualistisches "Ich brauche niemanden" und erfordert zudem ein ordentliches Maß an Reflexion, um diese Reaktion bei sich überhaupt zu erkennen.

Das Gegenteil von Unabhängigkeit ist nicht Abhängigkeit

Grundsätzlich ist die Balance entscheidend. Nur weil du dich jemandem öffnest, musst du dich damit nicht automatisch abhängig machen. Es ist sogar wichtig und gut für eine gesunde Beziehung, im Kern bei dir zu bleiben und nicht komplett in dem*der anderen aufzugehen.

Denn das Gegenteil von Unabhängigkeit im Gefühlskontext ist nämlich nicht Abhängigkeit, sondern vielmehr Offenheit. Vertrauen. Den Mut, ein Stück weit die Kontrolle abzugeben und das Risiko einer potenziellen Verletzung einzugehen. Und zu hoffen, dass es nicht passiert.

Damit dieses Risiko möglichst gering oder zumindest überschaubar ausfällt, ist es sinnvoll, genau zu prüfen, wer da Zugang zum Herzen bekommen soll und wer auch nicht. Genau hier, quasi bei der Partner*innenwahl, beginnt nämlich das Drama.

Wer zum Beispiel kein gut ausgeprägtes Selbstwertgefühl habe, suche sich laut Expertin häufig unbewusst Partner*innen, die das spiegeln: "In 20 Jahren als Coachin und auch in meinen eigenen Beziehungen konnte ich immer wieder feststellen, dass uns das passiert, was wir erwarten", sagt Nina Deißler. "Und Menschen, die sich von anderen schlecht behandelt fühlen, behandeln sich selbst häufig auch schlecht."

Das soll selbstredend nicht heißen, dass du schuld bist, wenn jemand sich dir gegenüber wie die Axt im Walde benimmt – aber es kann auf ein unbewusstes und schädliches Muster hindeuten, das dir das Leben und die Liebe unnötig schwermacht. "Das einzusehen, ist für viele Betroffene sehr unangenehm und deshalb schwierig, aber letztlich die unbequeme Wahrheit, die zur Lösung führen kann", erklärt Nina Deißler.

Menschen, die sich von anderen schlecht behandelt fühlen, behandeln sich selbst häufig auch schlecht.
Nina Deißler, Expertin für Partner*innensuche

So gelingt Unabhängigkeit ohne Abkapselung

Wenn dir das Alleinsein Spaß macht und dir nichts im Leben fehlt, ist das ganz hervorragend. Falls du dich jedoch eigentlich insgeheim vor Verletzungen versteckst und "Ich brauche niemanden" eher eine Reaktion auf Schmerz ist, dann kannst du daran arbeiten.

Das beschriebene Eingeständnis vor dir selbst ist der erste Schritt. Anschließend kannst du dir die seelischen Wunden und ihre Ursachen genauer anschauen. Wer hat dir warum wehgetan? Und vor allem: Was haben eventuelle alte Muster damit zu tun? "Heilung kann erst dann stattfinden, wenn man seine eigenen Anteile an den Verletzungen zu sehen beginnt", sagt auch Nina Deißler.

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Dann kommt das Loslassen, genauer gesagt: Akzeptieren, dass es passiert ist, dass die Situation ist, wie sie ist, und dir selbst genauso wie der anderen Person vergeben, soweit es möglich ist. Alle, sowohl du selbst als auch die Menschen in deinem Leben, begehen Fehler – nur so kann Entwicklung stattfinden.

Und wie gelingt das Öffnen, die Unabhängigkeit ohne Abkapselung konkret? "Es nicht mehr allen recht machen müssen oder wollen. Klar darüber sein, was man möchte und dazu stehen. Deutlich nein sagen lernen – und ansonsten bewusst ja sagen", rät Nina Deißler. "Und keine Angst vor ,Wachstumsschmerzen': Es ist normal, dass man hin und wieder enttäuscht ist, weil andere nicht so sind, wie man es erwartet oder hofft. Das gehört dazu."

Heilung kann erst dann stattfinden, wenn man seine eigenen Anteile an den Verletzungen zu sehen beginnt.
Nina Deißler, Expertin für Partner*innensuche

Nicht alle Menschen sind schlecht

Also, Unabhängigkeit ist schön und heilsam – dein verwundetes Herz hinter "Ich brauche niemanden" zu verstecken hingegen eher nicht. Denn auf Dauer ganz ohne andere Personen ist das Leben doch auch öde und schnöde. "Wir sind soziale Wesen und brauchen andere – in allen Belangen: zum Austausch, zum Abgleich, aber natürlich auch für seelische und körperliche Nähe", sagt Nina Deißler.

Deshalb: Lass' die Verletzungen und den Schmerz aus der Vergangenheit nicht deine Zukunft einschränken. Wer weiß? Andere Menschen sind nicht immer fies, grausam und gemein, sondern können sogar guttun. Wenn du dir die richtigen aussuchst.

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