Coming Home For Christmas und ich so: Jogginghose, Glühwein, Flauschsocken und Sofa. Mein gesetztes Ziel ist es, mich in der Zeit vom 23. bis zum 27. Dezember möglichst wenig zu bewegen, möglichst viel zu trinken, möglichst gut zu essen und möglichst viel zu schlafen. Das wäre auch alles kein Problem, wenn da nicht diese alljährliche Tradition wäre, die ich schon immer seltsam fand: Jedes Jahr am 22., 23. oder 24. Dezember treffen sich all die Menschen, mit denen ich zu Schulzeiten in einem Jahrgang war, auf dem städtischen Weihnachtsmarkt, stehen rum, mit einem künstlichen Lächeln im Gesicht und führen holprigen Smalltalk – der in etwa so lauwarm ist wie der Glühwein.

An der Schule kann man sich meist nicht aussuchen, mit wem man in einem Jahrgang oder gar in einer Klasse landet. Das wird willkürlich zugeteilt oder hängt mit der Belegung bestimmter Kurse zusammen. In den Klassen bilden sich dann Grüppchen, entstehen Freundschaften, man mag sich. Aber welche Wahl hat man denn sonst auch? In meinem Fall ist der Kontakt zu vielen meiner ehemaligen Schulkamerad*innen nach dem Abi langsam aber sicher verebbt. Andere Städte, andere Menschen, andere Interessen – und das ist vollkommen okay. Man ist einen gewissen Weg miteinander gegangen, hat einen bestimmten Lebensabschnitt miteinander verbracht und irgendwann trennen sich die Wege nun mal.

Natürlich gibt es auch noch einige Personen, die auf Lebenszeit einen festen Platz in dem Stein, der sich mein Herz nennt, haben. Mit denen es auch nach einem Jahr so ist, als hätte man sich erst gestern gesehen, zu denen ich Kontakt habe und pflege. Um diese Menschen zu treffen, brauche ich aber keine Festtage oder Reunions bei Glühwein und schlechter Musik.

Das Einmaleins des Smalltalks

Diese Treffen laufen nämlich immer gleich ab: Man trifft sich zu einer bestimmten Uhrzeit. Die Streber*innen sind überpünktlich, die coolen Kids kommen zu spät. Und dann wird getrunken und über alte Zeiten gelacht. Lustig.

Ich hatte schon damals den meisten von ihnen kaum etwas zu sagen, warum also jetzt? Und warum sind die Typen, die früher ihre Mitschüler*innen fertig gemacht haben, gemobbt haben, jetzt eigentlich so nett? War ja alles nur Spaß damals, ich verstehe schon. Wir sind ja jetzt erwachsen. Ach, und was studierst du so? Cool! Klingt mega interessant. Und was macht sie eigentlich? Ach was, bei der Sparkasse? Nein, das hätte ich aber nie gedacht – die wollte doch immer Popstar werden. Du, ich hole mir noch mal einen Glühwein. Ja, Danke, unbedingt. Meld dich ruhig, wenn du das nächste Mal in XY (hier jeweilige Stadt einsetzen) bist, dann trinken wir mal einen Wein zusammen. Ach, du trinkst gar keinen Alkohol? Wow, du bist so diszipliniert. Du, ich geh mal schnell rüber, da ist XY (hier beliebigen Namen einsetzen), den habe ich seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Hi, na? Wie geht's dir? Ach was? Wirklich? Schwanger? War aber kein Wunschkind, oder? Doch, war's? Na, find ich ja auch schön. Ach, ist die süß, die Kleine. Kommt ganz nach dem Papa. Ja, wirklich toll. Und sonst so? Nee, läuft. Schöne Stadt, fühle mich echt wohl. Ja. Ja. Muss ja. Ich hole mir noch mal einen Glühwein.

Irgendwann, nach der vierten oder fünften Tasse, ist mir sowieso alles egal. Also, was für eine Frage. Natürlich gehen wir heute noch aus, das muss gefeiert werden – und man sieht sich doch so selten. Ja, lass uns doch ein Gruppenfoto machen. Welcher Club hat denn heute offen? Ach, hier heißt das Disco? Ach, hat zu? Ja, dann lass doch in eine Bar. Aber jetzt erzähl doch erst mal, wie läuft's bei dir? Ich? Ich kann nicht klagen. Einen Doppelten bitte. Um darüber hinwegzusehen, dass da kaum noch Gemeinsamkeiten mehr sind. Man kann nun mal nicht das ganze Leben über diese eine Klassenfahrt, die verrückte Lehrerin oder über alte Beziehungen sprechen. Und das ist – ich sage es noch mal – vollkommen okay. Ich möchte gar nicht wissen, was viele der Leute über mich denken, was sie von mir halten. Danke, passt schon.

Mein kleines, kaltes Gossip-Herz

Man könnte jetzt fragen, warum ich mir das jedes Jahr aufs Neue antue, wo ich es doch anscheinend so sehr verabscheue. Dafür gibt es einige Gründe. Einer heißt Fomo – Fear of missing out –  und beschreibt meine Angst, irgendwas Spektakuläres zu verpassen. Ein weiterer heißt Klatsch und Tratsch: Mein kleines, kaltes Gossip-Herz würde es mir niemals verzeihen, wenn es an diesem einen Abend nicht all den Klatsch und Tratsch von ehemaligen Bekannten inhalieren zu dürfen.

Ich weiß nicht warum, aber ich möchte tatsächlich wissen, wer schwanger ist, wer geheiratet hat, wer sich getrennt hat, wer jetzt im Kloster lebt und wer vom grauen Entlein zur wilden Partymaus geworden ist. Nach diesen Abenden komme ich dann meist irgendwann mit dem Anrufsammeltaxi sturzbetrunken nach Hause und schlafe ganz selig ein, gesättigt mit Gossip für das nächste Jahr. Und während ich so dahin döse, weiß ich insgeheim: Jeder Mensch hat seinen eigenen Lebensentwurf, jede*r macht das, was er*sie machen möchte, womit er*sie sich wohl fühlt. Und das ist okay. Leben und leben lassen.