Vergangenen September saß ich im Zug irgendwo zwischen Leipzig und Berlin und dachte mir, wie einfach mein Leben jetzt sein könnte, wenn ich religiös wäre. Gerade war mir eine Herzrhythmusstörung diagnostiziert worden, die eine ebenso absurde wie verstörende Tatsache mit sich brachte: Laut den neuesten medizinischen Studien versterben alle zehn Jahre etwa ein Drittel der Betroffenen, sollten sie keine entsprechende Behandlung erhalten. Viele Menschen befänden sich unter meinen Umständen also vermutlich nicht in einem ICE – sondern auf dem Friedhof. Klingt gruselig? Das fand ich auch.

Alles nur Statistik! Dein Leben hat keinen Sinn! Du wirst geboren, du lebst, du stirbst, fertig!

Plötzlich war ich mir meiner Sterblichkeit bewusst – für mich als 27-Jährige eine Neuheit. Den Tod kannte ich als ein Ding der Anderen, der Alten, der Kranken. Jetzt sollte er plötzlich mich betreffen? Mir drängten sich Fragen auf, die ich mir zuvor noch nie in dieser Deutlichkeit gestellt hatte: War es wirklich nur Glück, dass ich noch am Leben war? Und wenn ich irgendwann kein Glück mehr hätte, was würde dann passieren? Wirklich nichts? So hieß es jedenfalls in den atheistischen Kreisen, in denen ich mich bewegte – und so hatte auch ich es seit Jahren selbstbewusst behauptet. Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Zufällen und nach dem Tod ist alles vorbei. Bislang hatte ich mit dieser atheistischen Sicht auf den Tod kein Problem gehabt, aber jetzt kam es mir so vor, als würden mich meine eigenen Ansichten verhöhnen.

Sollte ich vielleicht doch einfach wieder religiös werden?

Die Kirche hätte einfache Antworten: Gott hat mich nicht sterben lassen, weil er noch etwas mit mir vorhat. Und wenn er nichts mehr mit mir vorhat, muss ich keine Angst haben, denn es wird ein Leben nach dem Tod geben. Diese Antworten fühlten sich um einiges beruhigender an als meine atheistischen Ansichten. Aber ich konnte mich doch nicht einfach aus Feigheit vom Atheismus, von der Wissenschaft, von meinem rationalen Denken abwenden? Oder etwa doch?

Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ich suchte nach Atheist*innen, die auch im Angesicht des Todes dem Nichts selbstbewusst entgegentraten – und ich fand sie. Christopher Hitchens schreibt zum Beispiel in seinem post mortem veröffentlichten Buch Endlich: Mein Sterben: "Und selbst wenn meine Stimme vor mir dahingeht, werde ich weiterhin Polemiken gegen religiöse Wahnvorstellungen schreiben, zumindest, bis es heißt: Hello, darkness, my old friend." Hitchens Freund Richard Dawkins hatte vor seinem Tod ebenfalls kein Bedürfnis nach religiöser Erlösung, im Gegenteil: "Wir alle müssen sterben, das heißt, wir haben Glück gehabt. Die meisten Menschen sterben nie, weil sie nie geboren werden."

Der Tod als Glück, auch ohne ewiges Leben im Himmel?

Ein paar Atheist*innen schaffen es offenbar, das so zu sehen. Allerdings fand ich auch unreligiöse Menschen, die ihre Meinung später änderten, wie der niederländische Kardiologe und Autor des Buches Endloses Bewusstsein Pim van Lommel. Er begann seine Arztkarriere im Glauben, dass mit dem Tod alles zu Ende gehe. Doch nach der Beschäftigung mit den Nahtoderfahrungen seiner Patient*innen, ist er jetzt der Meinung: "Bewusstsein kann manchmal getrennt vom Körper erlebt werden."

Van Lommels Zitat ließ mich hoffen: Wenn selbst Wissenschaftler*innen die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod diskutierten, durfte ich mich dann komplett davor verschließen? Ich entschied, mich für neue Antworten zu öffnen – und das nicht primär, weil mir die atheistische Sicht auf den Tod Angst machte. Vielmehr zwang mich die ehrliche Auseinandersetzung mit meiner Sterblichkeit zuzugeben, dass ich schlicht und ergreifend keine Ahnung hatte, was der Sinn des Lebens ist oder was nach dem Tod passiert. Zu sagen, dass ich mir absolut sicher bin, dass nach dem Tod das große Nichts wartet, scheint mir ebenso dogmatisch, wie an den wortwörtlichen Gott der Bibel zu glauben.

Wenn mich 25-mal fast zu sterben eines gelehrt hat, dann ist es das: Ich muss das Leben führen, das ich führen kann und will.

Außerdem festigte sich in mir folgende Überzeugung: Ich glaube, dass die Wahrheit über den Sinn des Lebens und des Tods irgendwo außerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens liegt. Ist das ein zu einfacher Ausweg? Eine Flucht in die Unentschlossenheit, indem ich sage, dass wir die ganze Wahrheit als Menschen nie werden begreifen können? Vielleicht. Aber wenn mich 25-mal fast zu sterben eines gelehrt hat, dann ist es das: Ich muss das Leben führen, das ich führen kann und will.

Das heißt auch, dass ich für mich die Überzeugungen finden muss, mit denen ich leben kann und will. Ändere ich mich, darf ich auch jederzeit meine Überzeugungen ändern. Zurzeit bezeichne ich mich also als neugierige Agnostikerin: Vielleicht finde ich ja die Wahrheit heraus, wenn ich gestorben bin. Denn sterben werde ich – so viel weiß ich.

Genau das ist ja mein Glück.