Bis auf eine Oma hatte unsere Autorin keine Großeltern. Dafür Herrn und Frau K. Besonders zu Weihnachten denkt sie an die Nachbar*innen, bei denen sie als Kind viel Zeit verbrachte. 

Vergangenes Wochenende hat es mir endgültig gereicht mit der Kälte. Ich ging an meinen Kleiderschrank und zog eine hellblaue Hutschachtel aus dem obersten Fach, in der ich meine Wintermützen und Handschuhe aufbewahre. Kaum hatte ich den Deckel gehoben, stieg der vertraute Geruch von Schafwolle mir schon in die Nase: Ein Paar schwarze Fäustlinge mit weißen Herzchen lag ganz oben in der Schachtel, ich nahm sie behutsam heraus, vergrub meine Nase in der Wolle, atmete tief ein und drückte die Handschuhe anschließend gegen meine Brust. Die Wollfäustlinge sind mein liebstes Paar Handschuhe, ich bekam sie vor vielen Jahren von unserer Nachbarin geschenkt. Ich trage sie nie, denn sie sind das letzte was mir von ihrem Mann und ihr geblieben ist.

Bis auf eine Oma hatte ich keine Großeltern, dafür Herrn und Frau K.

Ich habe meine Großeltern väterlicherseits nie kennengelernt, sie verstarben, als ich gerade geboren war. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten zweieinhalb Stunden Autofahrt entfernt und auch dieser Großvater starb, als ich noch sehr klein war. Bis auf meine eine Oma hatte ich also keine Großeltern. Aber ich hatte Herr und Frau K. Das erste Mal, dass ich außer Haus übernachtet habe, war bei Herr und Frau K. Meine Eltern waren an dem Abend auf einer Weihnachtsfeier eingeladen und gaben mich in die Obhut des älteren Ehepaares, das nur ein paar Häuser entfernt wohnte. Weder meine Eltern noch Herr und Frau K. ahnten damals wohl, dass ich den Großteil meiner Kindheit in ihrem Haus verbringen sollte.

Bis ich eingeschult wurde, verbrachte ich viele Nachmittage eingekuschelt in den ledernen Ohrensessel des älteren Ehepaares und lauschte den Geschichten von Hui Buh - das Schlossgespenst. Fasziniert sah ich jedes Mal dabei zu, wie unsere Nachbarin die Schallplatte in den Plattenspieler legte und die Nadel ansetzte. Ich hörte die Geschichten über Kopfhörer, die viel zu groß für meinen Kinderkopf waren und mir immer wieder über die Augen rutschten. Im Sessel zu meiner Rechten lag Riesenschnauzermischling Tom und döste vor sich hin, auf dem Sofa zu meiner linken saß Frau K. und schmökerte einen Roman von Rosamunde Pilcher. Im Kamin vor uns knackten die Holzscheite unter den Flammen vor sich hin. Meine Nachbar*innen hatten die Kunst des Hygge perfektioniert, lange bevor der Begriff in Wohnzeitschriften Einzug erhalten sollte. Bei ihnen fühlte ich mich sicher, warm und sehr, sehr wohl. Ich fühlte mich bei ihnen zu Hause.

Vor jeder Mathe-, Bio- oder Physikklausur lernte Herr K. mit mir am Esstisch

Je älter ich wurde, desto mehr ließ mein Interesse an Hui Buh nach. Also fand ich andere Anlässe, die Gesellschaft meiner Nachbar*innen zu suchen: Im Winter ging ich für gewöhnlich um 16 Uhr zu ihnen zum Tee. Frau K. hatte immer eine wohlduftende Mischung aus Zimt und anderen Gewürzen parat und reichte dazu gerne Cantuccini. Herr K. machte sich unterdessen einen Spaß daraus mich über meine schulischen Leistungen auszufragen und mich wegen meiner schlechten Noten in Naturwissenschaften auszulachen. Als ich in die Mittelstufe kam, hatte er sich die Tragödie lange genug angeschaut und bot an, mit mir für Klassenarbeiten zu lernen. Vor jeder Mathe-, Bio- oder Physikklausur saßen wir stundenlang um den Esstisch während er versuchte, mir zum 100. Mal die binomischen Formeln beizubringen.

Die Ks hatten auch gemeinsame Weihnachtstraditionen. Jedes Jahr im November gingen Frau K. und ich in den Keller, um die Winteroutfits für ihre drei Puppen raufzuholen und diese anschließend in kleine Norwegerpullis und Wintermützen zu kleiden. Der Hingucker von Frau Ks Weihnachtsdekoration war der Engelschor auf der Anrichte über dem Kamin, der aus kleinen Holzfiguren bestand. Ich freute mich jedes Jahr wie ein Schneekönig, wenn ich im örtlichen Tante-Emma-Laden eine Figur entdeckte, die Frau K. noch nicht besaß und kurzerhand von mir geschenkt bekam. Am zweiten Weihnachtsfeiertag sowie an Silvester saßen wir in der Regel abends mit Ks zusammen beim Essen und stießen auf ein weiteres gesundes Jahr an.

Manchmal frage ich mich, ob ich für die Ks wohl auch zur Familie gezählt habe

2011 verstarb Frau K. überraschend im Schlaf. Einige Monate später folgte ihr Mann. Auf seiner Beerdigung sprach mich ein Bekannter der Ks an, "Sie waren mehr als nur Nachbarn für dich, oder?" Es stimmt: Die Ks, obwohl ich sie bis zu ihrem Tod gesiezt habe und mich nicht erinnern kann, dass wir uns jemals in den Arm genommen hätten, zählten für mich zur Familie. Ich hatte ein engeres Verhältnis zu ihnen, als zu einigen meiner tatsächlichen Verwandten. Es ist eben nicht allein das gemeinsame Erbgut, das eine Familie ausmacht. Es ist vor allem die Hingabe, die Zeit, die wir uns für die Menschen nehmen und die Anteilnahme an ihrer Freude und an ihrem Leid.

Ich denke oft an Herr und Frau K. Besonders an den Weihnachtstagen verspüre ich immer noch das Bedürfnis zu ihrem Haus hinüberzugehen, in der Hoffnung, dass Frau K. gerade eine Kanne Tee aufgegossen hat, an der ich mich wärmen kann. Manchmal frage ich mich, ob ich für die Ks wohl auch zur Familie gezählt habe. Erfahren werde ich es wohl nie, aber jedes Mal, wenn ich mir diese Frage stelle, erinnere ich mich an einen Moment aus meiner Jugend zurück.

Damals fand ich eine verletzte Ente auf dem Heimweg. Es war mitten im Winter und trotzdem zögerte ich nicht lange, sondern zog meinen Mantel aus und wickelte das Tier vorsichtig darin ein. Ich brachte das Tier schnurstracks zu Herr und Frau K., die schon zahlreiche zugelaufene und Wildtiere aufgepäppelt hatten. Sie standen beide in der Türe, als ich die Ente aus meinem Mantel hüllte und ich bin mir sicher in diesem Augenblick so etwas wie Stolz in ihren Augen gesehen zu haben. Stolz, dass sie mir beigebracht hatten, dass jedes Geschöpf kostbar ist. Stolz, dass ich sofort zu ihnen gekommen war. Stolz, dass sie dazu beigetragen hatten, dass ich der Mensch wurde, der ich bin.