Fünf Menschen starben diesen Winter in einem der griechischen Erstaufnahmelager. Warum kämpft das Land so sehr damit, Geflüchtete menschenwürdig zu versorgen und unterzubringen? Der Versuch einer Erklärung.

Mit dem Schnee dachte ich, ich müsste sterben vor Kälte."

"Als ich hier ankam, wurden die besonders Schutzbedürftigen zu den Containern geschickt und die anderen, wie ich, zu den Zelten draußen. Es sind Männer, aber auch Frauen, in den Zelten. Mit dem Schnee dachte ich, ich müsste sterben vor Kälte. Mein Zelt war völlig eingeschneit, du konntest es darunter gar nicht mehr erkennen", erzählt Alain, ein 32-jähriger Kameruner Mitarbeiter*innen von Human Rights Watch. Er beschreibt seine Ankunft im Erstaufnahmelager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.

"Das Problem vor allem auf Samos und Lesbos ist, dass dort Menschen in die Lager hineingepfercht wurden wie Sardinen in eine Büchse", sagt Roland Schönbauer von der UN Refugee Agency (UNHCR). "Die Warmwasserversorgung auf Samos ist zusammengebrochen. Warum? Weil zu viele Menschen Strom abgezweigt haben, um ihr Handy aufzuladen, um bei ihre Lieben anzurufen – oder weil sie sich im ungeheizten Schlafsaal Wasser aufkochen, um sich zu wärmen. Viele Menschen haben infolge des Warmwassermangels und der Kälte aufgehört, sich zu duschen. Und in Lesbos platzen die Sanitäranlagen aus allen Nähten. Man muss sich dort ewig beim Essen und zum Duschen anstellen."

Aufgrund der Überfüllung hat es die Erstaufnahmecamps auf den Inseln Lesbos, Samos und Chios bei dem überraschenden Wintereinbruch in Griechenland besonders hart getroffen. Menschen leben dort teilweise in mitgebrachten Zelten, die sie irgendwo zwischen Zäunen und Containern aufgestellt haben. Um sich warm zu halten und ihre Kleidung zu trocknen, entzünden sie alles an Brennmaterial, was sie finden können – teilweise in geschlossenen Räumen. Das berichtete Louise Roland-Gosselin, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen der taz. Im Januar hat es mehrere Tote gegeben; drei davon, weil sie vermutlich giftige Dämpfe von improvisierten Wärmequellen eingeatmet haben.

Wie kommt es zu den überfüllten Erstaufnahmelagern und den katastrophalen Lebensbedingungen?

Vergangenes Jahr haben sich zwei Dinge verändert, die man wissen muss, um die derzeitige Situation in Griechenland zu verstehen: Das EU-Türkei-Abkommen ist in Kraft getreten und die Balkanroute nach Nordeuropa wurde dicht gemacht. Die Folge: Statt dass die Menschen nach Nordeuropa weiterreisen konnten, wie es noch 2015 passiert ist, saßen auf einmal 50.000-60.000 Menschen in Griechenland fest. Und es wurde zur Aufgabe Griechenlands erklärt, diese Menschen unterzubringen und deren Asylansprüche zu prüfen. Griechenland hatte bis dahin nur eine relativ kleine Behörde für Asylbelange, da die meisten Geflüchteten bis zur Schließung der Grenzen sowieso nach Norden weiterzogen und nicht in Griechenland Asyl beantragten. 2016 haben nur 2.600 Menschen in Griechenland einen Schutzstatus erhalten.

Seit März 2016 müssen nun alle Menschen, die von der Türkei aus übersetzen, in den griechischen Erstaufnahmelagern registriert und identifiziert werden. Anschließend wird festgestellt, ob die Person

  • zum Asylverfahren in Europa zugelassen wird
  • oder im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens in die Türkei abgeschoben werden kann.

Jeder Antrag muss von den Behörden einzeln geprüft werden – zum Beispiel um herauszufinden, ob die Türkei für die jeweilige Person kein sicherer Staat ist und deshalb Anspruch auf Asyl in Griechenland hat. Ein Grund für die aktuelle Überbelegung ist, dass die griechischen Behörden die Verfahren nicht rasch genug abwickeln. Maximal 30 Asylanträge pro Tag werden bearbeitet, sagte Christina Kalogirou, die Regionalpräfektin der nördlichen Ägäis zu Zeit Online. Bis über ihre Anträge entschieden wurde, sitzen die Menschen in den Erstaufnahmelagern fest. Weiter auf das Festland reisen dürfen lediglich besonders schutzbedürftige Gruppen wie unbegleitete Minderjährige oder schwangere Frauen.EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos hatte zwar im April 2016 zugesichert, dass die Verfahren für Geflüchtete auf den griechischen Inseln innerhalb weniger Tage bearbeitet sein würden – Faktisch sitzen Menschen aber teilweise seit dem vergangenen Jahr auf den Inseln fest und warten immer noch auf eine Entscheidung darüber, wie es mit ihnen weitergeht. Rund 13.699 Geflüchtete und Migrant*innen befanden sich

laut Angaben des UNHCR

Ende Januar in einem der Erstaufnahmecamps. Und das, obwohl diese lediglich darauf ausgelegt sind, 8.848 Menschen zu beherbergen. Und auch wenn die Türkei seine Küste mittlerweile strenger kontrolliert, kommen täglich mehr Menschen in den sowieso schon überfüllten Lagern an.

"Zusätzlich zu den schlechten Lebensbedingungen kommt die anhaltende Ungewissheit darüber, wie es weitergeht, die für viele eine enorme psychische Belastung darstellt", sagt Schönbauer. "Die Menschen auf den Inseln haben oft das Gefühl, gefangen zu sein. Sie können zwar die Lager verlassen, aber nicht die Inseln. Was man nicht vergessen darf: Bei den ganzen administrativen Prozessen geht es ja für jeden Menschen um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft seines ganzen Lebens."

Wenn sich Europa als Menschenrechtsstandort ernst nimmt, muss es Griechenland besser unterstützen."

Was muss sich ändern?

Für Schönbauer müssen die Lebensbedingungen in den Camps verbessert werden. Die Menschen müssen in beheizten Gebäuden und winterfesten Lagern untergebracht werden. Damit die Situation vor allem für die auf den griechischen Inseln festsitzenden Menschen besser wird, müssten laut Schönbauer darüber hinaus "drei Zahnräder besser ineinander greifen":

1. Die bürokratischen Prozesse in den Erstaufnahmelagern müssten schneller voran getrieben werden. "Dafür bräuchte es mehr Personal von griechischer Seite und von den europäischen Regierungen."

2. Wenn die Anträge schneller bearbeitet werden würden, dann könnten auch mehr Menschen, die zum Asylverfahren in Griechenland zugelassen werden, zügiger auf das Festland gebracht werden. Die Camps dort hätten Kapazitäten, mehr Menschen aufzunehmen. Auch in den Festlandcamps flösse zwar nicht Milch und Honig, die meisten seien jedoch in weitaus besseren Zuständen, als die Erstaufnahmecamps auf den Inseln, so Schönbauer.

3. Vom Festland aus müsste laut Schönbauer das dritte Zahnrad einsetzen: "Schutzsuchende müssen innerhalb Europas umverteilt werden."

Das Relocation Agreement

Bereits im September 2015 berieten die EU-Mitgliedsstaaten darüber, wie Griechenland und Italien, in denen die meisten flüchtenden Menschen zum ersten Mal europäischen Boden betreten, unterstützt werden können. Denn Griechenland ist nicht in der Lage, tausende Migrierende aufzunehmen. Das Land ist gebeutelt von der Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit liegt bei 22 Prozent, wie sollen da noch tausende neue Bürger*innen integriert werden?

Die Staaten einigten sich auf das sogenannte Relocation Programm. Dieses sieht vor, dass andere europäischen Staaten Menschen aufnehmen, die in Italien oder Griechenland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Diese Vereinbarung gilt jedoch nur für die Nationalitäten, die eine Anerkennungsrate von 75 Prozent haben – was derzeit auf Syrer, Eritreer, sowie religiöse Minderheiten aus dem Irak zutrifft.

Das Ganze ist jedoch nur eine Einigung, die bei Zuwiderhandlung ohne Konsequenzen bleibt. Das Ziel des Europäischen Rats war es, binnen zwei Jahren 66.400 Menschen aus Griechenland innerhalb Europas umzuverteilen. Bis Anfang Februar 2017 wurden jedoch laut Angaben der Europäischen Kommission gerade mal 8.766 Asylsuchende von anderen Staaten aufgenommen – das entspricht 12,5 Prozent nach fast anderthalb Jahren.

In dieser Tabelle sieht man, wie viele Menschen beispielsweise Deutschland, Frankreich, Portugal, Ungarn und Polen bislang aus Griechenland aufgenommen haben – die Liste aller Mitgliedsstaaten findet ihr hier – und wieviele sie nach dem EU-Schlüssel hätten aufnehmen sollen, um das Ziel von 66.400 Relocations zu erreichen:

Europas Krise der Menschlichkeit

"Man kann die schwierige Situation in Griechenland nur verstehen, wenn man weiß, dass Europa seine Solidarität vielfach verweigert hat", erklärt Schönbauer. "Wenn sich Europa als Menschenrechtsstandort ernst nimmt, muss es Griechenland besser unterstützen. Europa müsste klar sein, dass vor allem Menschen aus Afghanistan, Irak und Syrien hier bleiben werden müssen. Die meisten dieser Menschen lassen sich aus Menschenrechtsgründen nicht in ihre Herkunftsländer abschieben, weil das europäische Gerichte stoppen werden. Europa kann sich also nur entscheiden, ob es diese Menschen rasch integriert – oder monatelang in griechischen Erstaufnahmelagern verbittern lässt, bevor es sie integriert. Aus menschlichen, ökonomischen und organisatorischen Gesichtspunkten, spricht alles dafür, ihnen rasch Klarheit über ihre Zukunft zu geben, um eine rasche Integration zu ermöglichen."

Doch auch wenn Europa seine Solidarität wiederentdeckt, wird es tausende Menschen geben, die in Griechenland bleiben werden und auf die sich Griechenland einstellen muss. "Griechenland wird diese Menschen integrieren müssen", so Schönbauer. "Das ist zugegebenermaßen nicht leicht in einer Wirtschaftskrise, mit vielen Staatsbürgern, die arbeitslos sind."

ze.tt-Autorin Tessa berichtet für uns aus Athen. Habt ihr Themenvorschläge, die euch besonders interessieren? Oder Fragen, die euch beschäftigen? Oder wollt ihr ein paar Tsatsiki-Rezepte tauschen? Dann schreibt ihr doch eine eMail. Sie freut sich über Zuschrift und wird auf jeden Fall in der 3. Person antworten.