"Weg mit Putin!", "Geh endlich in Rente!", "Putin ist ein Dieb und Teil des korrupten Systems", skandieren Zehntausende junge Demonstrant*innen von Wladiwostok bis St. Petersburg. "Für faire Wahlen" und "Freiheit für Nawalny" kann man auf ihren Plakaten lesen. Bereits dreimal sind Putingegner*innen in Russland dieses Jahr auf die Straße gegangen. Zuletzt protestierten sie am vergangenen Samstag in rund 80 russischen Städten. Dazu aufgerufen hatte der Oppositionspolitiker und selbsternannte Präsidentschaftskandidat Alexej Nawalny, der zur Zeit eine 20-tägige Haftstrafe absitzt, weil er an einer nicht genehmigten Demonstration teilnehmen wollte.

Proteste gegen die Regierung

Seit Nawalny im Dezember vergangenen Jahres beschloss, für die Wahl des russischen Präsidenten im März 2018 zu kandidieren, hat er hochgerechnet jeden fünften Tag im Knast verbracht. Mehrfach ist er mit den Behörden in Konflikt geraten, weil er landesweite Proteste gegen Korruption und die Regierung organisierte. Aktuell verbietet ihm die russische Wahlkommission wegen einer geltenden Bewährungsstrafe die Wahlteilnahme im nächsten Jahr.

Der russische Regierungschef Wladimir Putin hat sich zu seiner Teilnahme an der Präsidentschaftswahl bislang noch nicht geäußert. Seit 18 Jahren ist er im Amt, länger hat das Land in den vergangenen hundert Jahren nur Josef Stalin regiert. Kritiker*innen und Herausforder*innen des Kremlchefs haben es nicht leicht, trotzdem formieren sich immer mehr Leute gegen die Regierung.

Wer sind diejenigen, die auf die Straße gehen?

Laut der Politologin Ekatherina Schulmann nehmen an den Anti-Putin-Demos auffällig viele junge Demonstrant*innen teil: "Viele sind jünger als 30 Jahre, Schüler und Studenten im ersten oder zweiten Semester." Sie seien bestens in den sozialen Netzwerken vernetzt und verfügten über ein intaktes Wertesystem. Zwar sind nicht alle von ihnen auch gleichzeitig Anhänger*innen Nawalnys, sondern wollten teilweise schlichtweg ein Zeichen gegen die Regierung setzen, doch der Politiker beherrscht ihre Sprache gut: Er veröffentlicht Clips auf YouTube, Blog-Posts oder auch Posts bei Facebook, VKontakte, dem russischen Facebook und Instagram-Stories.

Nach Aussage von Lew Gudkow, Chef des einzigen russischen unabhängigen Meinungsfoschungsinstitutes Levada-Zentrum, bilden die oft weltoffenen und liberalen jungen Leute, die entschlossen gegen Putin rebellieren, unter den jungen Russ*innen jedoch keine Mehrheit: "Die meisten sind eher konservativ und unterstützten Präsident Putin." Auch die Gesamtbevölkerung ist eher Pro-Putin gestimmt. Aus einer Umfrage des Instituts geht hervor, dass rund 84 Prozent der befragten Russ*innen bei den nächsten Präsidentschaftswahlen erneut für ihn stimmen würden. Wer also sind diejenigen, die gegen Putin auf die Straße gehen und was wollen sie verändern?

Maria Kazakova, 24 Jahre alt, Designerin aus Chabarowsk

Was stört dich an Putins Politik?

Es ist unmöglich, mit der Politik unseres derzeitigen Präsidenten zufrieden zu sein. Um mich herum sehe ich so viel soziale Ungerechtigkeit, bei den Gerichten, der Polizei und bei der Verteilung von wirtschaftlichen Ressourcen, um nur einige Beispiele zu nennen. Mir tun auch unsere Rentner*innen wirklich leid, die mit einer sehr kleinen finanziellen Unterstützung unseres gleichgültigen Staates versuchen müssen, zu überleben. Es entsetzt mich zu beobachten, wie meine Freund*innen und freiwillige Mitarbeiter*innen in NGOs hohe Geldstrafen zahlen müssen oder sogar verhaftet werden, weil sie an einem Protest teilnehmen. Es gibt dafür keine rechtliche Grundlage und trotzdem passiert das. Ich bin jetzt 24 Jahre alt und seit ich denken kann, sehe ich immer die gleichen Menschen an der Spitze der Macht.
Warum unterstützt du den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny?

Er ist der einzige Politiker seit dem ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, der es geschafft hat, um sich herum ein Team mit kompetenten Leuten aus ganz Russland zu versammeln. Klein beigeben kommt für Alexej Nawalny nicht infrage, das macht mir persönlich Hoffnung. Ich habe mich intensiv mit seinem Wahlprogramm auseinandergesetzt. Auch mit seiner Person. Nawalny hat in der Vergangenheit zum Beispiel bewiesen, dass er ein erfolgreicher Geschäftsmann ist. Im Gegensatz zu anderen Politiker*innen, die zwar viel versprechen, aber nichts dafür tun, das Versprochene umzusetzen, handelt Nawalny. Er hat dem korrupten System den Kampf angesagt. Er sammelt Beweise, um korrupte Beamt*innen zu entlarven, bekämpft die Gesetzlosigkeit in unserem Land und gründet nützliche öffentliche Organisationen, wie etwa den Fond zur Bekämpfung der Korruption (FBK).
Wieso gehst du zu den Demos?

Ich habe bisher an allen Protesten teilgenommen, die in Chabarowsk stattgefunden haben. Meine Motivation ist einfach: Ich möchte irgendwann in einem progressiven Land leben, auf das ich stolz bin. Ich habe wirklich die Nase voll von den widerwärtigen Gesichtern der Mächtigen in unserem Land, die uns ohne Scham und Schuldgefühl ins Gesicht lügen und die Bevölkerung schon fast so viele Jahre berauben, wie ich alt bin. Zudem nimmt Terrorismus, Kriminalität und Arbeitslosigkeit zu. Ich finde, wir müssen dagegen ankämpfen.[Außerdem auf ze.tt: Was wir über Russland lernen können, wenn wir es bereisen]

Roman Minstral, 21 Jahre alt, Student aus Orenburg

Warum demonstrierst du heute gegen Putins Politik?

Ich bin nicht zufrieden mit der Politik in unserem Land. Ich bin der Meinung, dass die Amtszeit eines Präsidenten auf maximal zwei Amtsperioden begrenzt werden sollte. Wenn eine einzige Person zu viel Macht in einem Land hat, das nach Demokratie strebt, endet das meist in einer Katastrophe. Damit meine ich in Kriegen und der Verletzung der Freiheit und Rechte von Bürger*innen. Präsident Wladimir Putin ist nicht in der Lage, das Land aus der wirtschaftlichen und politischen Krise herauszuführen. Russland braucht einen neuen Staatschef, der in der Lage ist, die bestehenden Probleme aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich habe bisher an allen großen Protestaktionen teilgenommen, zu denen Nawalny aufgerufen hat, um andere Leute davon zu überzeugen, dass die 86 Prozent der Bevölkerung, die Putin unterstützen, ein Mythos sind. Das berichten vielleicht die staatlichen Medien, aber das stimmt nicht.
Warum unterstützt du den Oppositionspolitiker Nawalny?

Ich möchte etwas klarzustellen, bevor ich die Frage beantworte: Meiner Meinung nach kann eine Person Russland nicht verändern. Russland kann sich nur mithilfe einer aktiven Zivilgesellschaft verändern, die nicht daran gehindert wird, für ihre Rechte und Freiheiten zu kämpfen. Was Nawalny angeht, so halte ich ihn für die einzige Alternative zum amtierenden Präsidenten. Nawalny betreibt aktiv Wahlkampf und er ist der Einzige, der keine Angst vor der Wahrheit hat.
Was hältst du von seinem Wahlprogramm?

Es gibt noch kein endgültiges Wahlprogramm, nur eine vorläufige Zusammenfassung einiger Kernideen, wie die Justizreform und die Korruptionsbekämpfung – beides Punkte, die ich für wichtig halte. Nawalny wirbt auch damit, das Geld aus der Korruptionsbekämpfung für ordentliche Straßen, kostenlose Bildung und ein Mindestgehalt einzusetzen. Die Idee find ich gut.
Gibt es auch Thesen von Nawalny, die du nicht unterstützt?

Ja, einen Punkt zur Migrationspolitik. Ich glaube, wir haben in Russland wichtigere Probleme als das Einwanderungsproblem zu lösen. Ich unterstütze die Einführung einer Visumspflicht für Menschen aus Zentralasien nicht, da meine Stadt Orenburg zum Beispiel an Kasachstan grenzt.[Außerdem auf ze.tt: Russlands engagierte Jugend: Mit Performance-Kunst gegen die politische Ohnmacht]

Evgeni Galikorov, 24 Jahre alt, Student und Freiwilliger im Wahlkampfbüro von Nawalny in Nischni Nowgorod

Was stört dich an Putins Politik?

Wladimir Putin hat einen korrupten Staat geschaffen. Bei den Regionalwahlen gibt es kaum alternative Kandidat*innen, wir können nur Kandidat*innen von Putins Partei Einiges Russland wählen. Bei den Präsidentschaftswahlen sind alternative Kandidat*innen noch viel undenkbarer. Das Wort Demokratie existiert bei uns nicht. In den vergangenen Jahren gab es viele schlimme Entwicklungen in unserem Land, von radikalen orthodoxen Aktivist*innen, über Korruptionsskandale in die Abgeordneten verwickelt waren, bis zu neuen Gesetzen, die die Freiheit der Medien und des Internets massiv einschränken. Die Regierung versucht ständig, die Freiheit in allem unter dem Deckmantel der Sicherheit zu begrenzen. Freund*innen und Bekannte von Putin sind im Laufe seiner Amtszeit zu den reichsten Menschen im Land geworden. Die Zahl der Millionär*innen in Russland wächst ebenso wie die Zahl der Armen. Es ist offensichtlich, dass Russland keine Zukunft mit Putin hat. Die Machthaber*innen haben sie uns gestohlen.
Warum siehst du in Nawalny Hoffnung für eine Veränderung?

Alexej Nawalny unterstütze ich schon seit 2011. Es ist schwer, dem einzigen wirklichen Oppositionellen des Landes nicht zur Seite zu stehen. Ich bin sicher, wenn jemand den Kurs meines Landes ändern kann, dann er. Zu den Kundgebungen organisiert von Putin-Anhänger*innen geht doch niemand. Wer sonst hat 79 Hauptquartiere in ganz Russland so wie Nawalny? Niemand. Haben andere potenzielle Kandidat*innen für das Amt des*der Präsident*in auch über 160.000 freiwillige Helfer*innen? Ich kenne niemanden. Alexej und seinem Team ist es unter schwierigsten Voraussetzungen wie unrechtmäßige Verhaftungen, Gerichtsprozesse, Demütigung durch Kritiker*innen trotzdem gelungen, ein ausgezeichnetes russlandweites Netzwerk aufzubauen. Mithilfe von Demos, Freiwilligen und Unterschriftenaktionen zu seiner Unterstützung. Das ist wirklich cool. Das gab es so im modernen Russland noch nicht.
Welchen Punkt in Nawalnys Wahlprogramm findest du am wichtigsten?

Der wichtigste Punkt ist die Justizreform. Ohne sie wird im neuen Russland nichts passieren. Die Gerichte können mithilfe von Gesetzen nicht nur die Würde der Menschen beschützen, sondern auch das Investitionsklima des Landes verbessern. In diesem Punkt stimme ich Nawalny zu. Was den Kampf gegen Korruption angeht, denke ich, dass alle Bürger*innen damit einverstanden sind. In diesem Zusammenhang auch durch die Ratifizierung des 20. Artikels der UN-Konvention. Ich stimme Nawalny auch zu, dass die ungleiche Verteilung der Haushaltsmittel nach Regionen korrigiert werden muss. Schauen Sie sich die Zahlen für 2018 an: Dagestan erhält 50 Milliarden Zuschüsse, Tschetschenien 27 Milliarden und zum Beispiel die Region Lipetsk nur 0,8 Milliarden. Sieht so Gerechtigkeit aus? Das glaube ich aber nicht.
Gibt es Punkte, in denen du sein Programm nicht unterstützt?

Ich zweifle daran, ob die Legalisierung von leichten Handwaffen eine gute Idee ist. In anderen Ländern können wir beobachten, dass das nicht immer zum Nutzen für die Gesellschaft ist. Mal sehen, wie es bei uns sein wird.
Warum bist du bei den Demos dabei?

Es gibt nur eine Möglichkeit, am jetzigen Machtgefüge zu rütteln: auf die Straße gehen und protestieren. Wahlen haben die Funktion der Regulierung verloren. Alle wichtigen Medien sind Pro-Kreml. Es gibt keinen Widerstand innerhalb der Machtstrukturen. Die Behörden tun so, als ob es uns nicht geben würde. Für die Machthaber*innen sind wir irgendwelche Internet-Nerds. Doch in Wirklichkeit gehört unser Team mit zu den bemerkenswertesten politischen Aktivist*innen unserer Zeit.