Teppich zusammenrollen, Tisch wegschieben, Bett an die Wand stellen: Kim erinnert sich noch genau an die Handgriffe ihrer Mutter, wenn es wieder einmal Zeit war, alles zusammenzupacken und die Stadt zu wechseln. Die ersten Jahre ihres Lebens wohnte die 22-Jährige in einem Wohnwagen, etwa so groß wie eine Zweizimmerwohnung. Alle paar Wochen wurden die Zimmer eingefahren wie die Seiten eines Akkordeons, bis der Wohnwagen wieder die Form eines kompakten Kastens einnahm, den man mühelos mit einem Lastwagen transportieren konnte.

Heute lebt Kim nicht mehr in einem Wohnwagen, sondern in einer WG in Passau, wo sie momentan European Studies studiert. Doch lange Zeit war erst der Zirkus ihrer Großeltern und schließlich der Zirkus ihrer Eltern ihr Zuhause. Kim ist Sprössling der Familie Renz, einer Familie, der die Manege in den Genen liegt. Ob als Artist*in, Tierdompteur*in oder als Zirkusdirektor*in, die ganze Familie ist oder war im Zirkusgeschäft. 1842 gründete ein gewisser Ernst Jakob Renz den Circus Olympic in Berlin und auch heute noch gibt es viele Zirkusunternehmen mit dem Namen Renz, alle weitläufig miteinander verwandt. 1987 eröffneten auch Kims Großeltern ihren eigenen Zirkus, den Zirkus Universal Renz, in dem auch Kim ihre ersten Kindheitsjahre zwischen Artist*innen aus der ganzen Welt und wilden Tieren verbrachte. "Bären, Lamas, Zebras: Im Zirkus meiner Großeltern gab es alle möglichen wilden Tiere. Für mich war es ganz normal, auf einen Elefanten zuzugehen und ihn zu streicheln", erzählt Kim.

Freund*innen für eine Zirkussaison

Das Leben im Zirkus ist aufregend, aber auch voller Veränderungen. Kim wechselte nicht nur in regelmäßigen Abständen die Stadt, sondern auch ihre Freund*innen. An potenziellen Spielpartner*innen mangelte es ihr nicht, mit Händen und Füßen versuchte sich Kim mit den Kindern der anderen, oft ausländischen Artist*innen zu verständigen. "Das waren dann zwar oftmals nur Freunde für eine Saison, denn die sind mit ihren Eltern im nächsten Jahr zu einem neuen Zirkus gefahren."

"Bis ich sechs Jahre alt wurde, habe ich gar nicht gemerkt, dass ich anders aufgewachsen bin als andere Kinder", sagt Kim. Schwierig wurde es erst, als sie ins Schulalter kam. Jede Woche machte der Zirkus in einer anderen Stadt Halt, was einen geregelten Schulalltag nahezu unmöglich machte. Doch eine gute Schulbildung war vor allem Kims Mutter wichtig. Die gebürtige Ungarin kam selbst in den 1980er Jahren nach Deutschland, um als fahrende Lehrerin ungarische Zirkuskinder zu unterrichten. Dass ihre beiden Töchter die Schule schon nach wenigen Jahren verließen, wie es bei vielen anderen Zirkuskindern der Fall ist, kam für Csilla Renz nicht in Frage. Auch Kims Vater Henry hatte selbst schlechte Erinnerungen an seine eigene Schulzeit. "Er fand es ganz schlimm, dauernd die Schule wechseln zu müssen. Manchmal haben ihn die Lehrer einfach nur in eine Ecke gesetzt und etwas malen lassen", erzählt Kim.

Unter der Woche Schule, am Wochenende im Auto quer durch Deutschland zum Zirkus

Heutzutage versucht man dem durch fahrende Schulen entgegenzuwirken, die Kinder und Artist*innen während der Saison vor Ort besuchen und unterrichten. "Trotzdem steigen die meisten Zirkuskinder nach der Schule wieder ins Familienunternehmen ein", weiß Kim. "Meinen Eltern war es immer wichtig, dass wir eine richtige Schulausbildung bekommen, sodass wir auf den Zirkus nicht angewiesen sind, sondern auch die Chance haben später einen anderen Beruf zu ergreifen".

Also starteten die Renz ein einmaliges Zirkusprojekt. Unter der Woche wohnte Kim mit ihrer Mama und ihrer 6 Jahre älteren Schwester Bianca in Friedberg, in der Nähe von Frankfurt, und besuchte dort Grundschule und Gymnasium. Am Wochenende setzten sich die Mädels ins Auto und fuhren dem Vater hinterher, der inzwischen mit einem eigenen Wanderzirkus durch Deutschland tourte. "Während meine Schwester sich jedes Mal auf das Wochenende im Zirkus gefreut hat, war ich immer froh, wenn ich wieder in der Schule bei meinen Freunden sein konnte", gibt Kim zu. "Ich glaube, ich konnte in meiner Schulzeit bei keinem einzigen Geburtstag meiner Freunde da sein, weil wir immer mit dem Zirkus unterwegs waren."

Viele Leute haben eine klischeehafte Vorstellung von Zirkus. – Kim

An der Uni verschweigt Kimberly ihre Kindheit im Zirkus oftmals. "Ich habe einfach keine Lust, mich immer rechtfertigen zu müssen. Viele Leute haben eine falsche oder klischeehafte Vorstellung vom Zirkus und ich muss mich dann immer wieder damit beschäftigen". Dass Kim als Zirkuskind manchmal auffällt, merkte sie schon in der Grundschule. "Anscheinend geht man bei einer Zirkusfamilie sofort von einem niedrigen Bildungsstandard aus. Meine Klassenlehrerin hat mich das dann auch spüren lassen und wollte mich gleich auf die Hauptschule schicken", erzählt die heute 22-Jährige. Das kam für Kims Eltern jedoch gar nicht infrage und Kim kam, ebenso wie schon ihre Schwester, aufs Gymnasium. Dort geht sie erst einmal in der Schülermasse unter. "Die Leute haben sich nicht wirklich getraut mich darauf anzusprechen, die Leute haben eher hinter meinem Rücken über mich gesprochen", sagt Kim.

Leute, die nie mit ihr gesprochen haben, fragen sie, ob ihr Zirkus insolvent ist

Es ist eine schwierige Zeit für das fahrende Volk, viele Zirkusse gehen insolvent oder kommen wegen Vorwürfen der Tierquälerei in die Presse. "Manchmal kamen Mitschüler auf mich zu, mit denen ich noch nie davor gesprochen habe und haben mich auf unsere angebliche Insolvenz angesprochen, dabei war das nie unser Zirkus in der Presse, sondern immer ein anderer Zirkus der Familie Renz. Wir sind weder insolvent und der Zirkus meiner Eltern arbeitet auch nicht mehr mit wilden Tieren zusammen, wie es noch meine Großeltern gemacht haben." Dass sich ihre Mitschüler*innen den Zirkus ihrer Eltern gar nicht richtig vorstellen können, merkt Kim auch, als es in der zwölften Klasse zur Debatte steht, die Abschlussfeier im Zirkuszelt ihrer Eltern abzuhalten. "Es hat eine richtige Diskussion stattgefunden, weil einige Leute eine Feier in einem Zirkus nicht elegant genug fanden und lieber in der Stadthalle feiern wollten", erklärt Kimberly. "Die haben sich einen kleinen Jahrmarktszirkus vorgestellt, der mit seinen paar Ponys von Stadt zu Stadt zieht und an Haustüren betteln geht."

Die Vorstellung von Kims Mitschüler*innen hat wenig mit dem Zirkus der Familie Renz zu tun. Mit fünfzig Metern Durchmesser fasst das Zelt 1. 500 Zuschauer*innen, die inzwischen allerdings nur noch zur Weihnachtszeit zur Show strömen. "Meinen Eltern war es irgendwann zu anstrengend dauernd von Stadt zu Stadt zu tingeln, außerdem wird ein guter Zirkus heutzutage leider nicht mehr wirklich wertgeschätzt". So wurde aus dem Wanderzirkus kurzerhand ein Weihnachtszirkus, der in der Adventszeit in Luxemburg und zwischen den Jahren in Heidelberg auftritt. Dort hat die Familie Renz bereits ein festes Stammpublikum und wird jedes Jahr wieder mit Freude erwartet. Die Vorbereitungen für die zweistündige Show laufen jedoch bereits ab Frühling: Zirkus ist Kunst, man muss viel dafür machen. Man kümmert sich um das Licht, die Artist*innen, die Musik, den Schnitt. "Es gibt so viel, an das man denken muss", zählt Kim auf.

Bei all dem ist Kim inzwischen nicht mehr dabei, stattdessen sitzt die Studentin über ihren Büchern in der Bibliothek. Doch kaum bricht die Weihnachtszeit wieder an, ist auch sie wieder im Zirkus zu finden. "Ich kümmere mich um Kleinigkeiten, die erledigt werden müssen, verkaufe Tickets oder besorge die Snacks für den Kiosk. Ich bezeichne mich gerne als Mädchen für alles", sagt Kim und lacht. Ob Kim nach dem Studium wieder ganz in das Familienunternehmen einsteigt und den Zirkus vielleicht irgendwann einmal ganz übernimmt? "Das macht hoffentlich meine ältere Schwester, denn die geht total im Zirkus auf und übernimmt momentan schon die Gestaltung der jährlichen Show." Doch im Zirkus mitarbeiten? Kim zuckt die Schultern: "Ausgeschlossen ist nichts."