Ist dieser Mann extrem arrogant oder ziemlich smart? Vor dieser Frage stand Mathias Schürmann, Mitinhaber der Schweizer Werbeagentur Rocket, als er die Praktikumsbewerbung von Livio Arfini in der Hand hielt. Dieser hatte auf das Gesuch nach einem Ü65-Praktikanten geantwortet: "Gute Idee. Bin interessiert. Eine Bewerbung schreibe ich nicht, aber vorstellen würde ich mich schon."

Die Stelle, um die es ging, hatte das Unternehmen aus Luzern im Januar vergangenen Jahres ausgeschrieben. Es sollte für die Firma, dessen Mitarbeiter*innen zwischen 17 und 44 Jahre alt sind, eine Art Experiment sein: Da viele ihrer Kund*innen ein Zielpublikum von über 60-Jährigen ansprachen, wollte die Werbeagentur sich selbst eine ältere Dame oder einen älteren Herren mit ins Team holen. Was auf den ersten Blick wie ein Marketinggag wirken könnte, meinte die Agentur vollkommen ernst. Kurzerhand produzierten die Mitarbeiter*innen ein Video unter dem Motto Too young to feed the birds, mit dem sie Rentner*innen suchten, die noch einmal etwas erleben wollten. Dauer des Praktikums: drei Monate. Die Anzeige schaltete das Unternehmen bewusst nur online.

Mit 68 noch mal etwas erleben

Livio war zu dem Zeitpunkt 68 Jahre alt, seit vier Jahren pensioniert und genoss das Leben. Fuhr Rad oder Ski und las gern. "Meine Partnerin hat immer gesagt, ich soll was machen, sie arbeitet noch", erklärt er, warum er sich damals überhaupt auf das Praktikum beworben hat. In einer Onlinezeitung stieß er auf die Anzeige für den*die Ü65-Praktikant*in. Ihn reizte die Idee, wieder unter junge Leute zu gehen, einem jungen Unternehmen vielleicht etwas von seiner Berufserfahrung mitgeben zu können. Bis zur Rente hatte er 25 Jahre als Ausbildungsleiter bei einer großen Warenhauskette gearbeitet, war für 400 Lehrlinge verantwortlich. Kurzerhand schickte er seine – mittlerweile berühmt-berüchtigte – Nachricht ab. "Ich hatte mir überlegt, die Leute lesen nicht gern und man muss herausstechen. Meine Nachricht war schön knackig." Zwei Wochen später lud ihn die Agentur zum Vorstellungsgespräch ein.

Bei Mathias gingen derweil über 20 Bewerbungen ein. Offensichtlich fühlten sich noch einige Rentner*innen berufen, etwas Neues zu probieren, der älteste Kandidat war 78 Jahre alt. "Da waren auch Personen dabei, die früher Marketingleiter in internationalen Konzernen waren. Wir haben uns aber dagegen entschieden, jemanden mit einschlägigen Erfahrungen einzuladen, denn es ging ja um ein Praktikum", berichtet er.

Wir haben gleich beim Bewerbungsgespräch einen kleinen Stresstest gemacht und ihn geduzt." – Agenturmitinhaber Mathias

Beim ersten Treffen behandelte Mathias, übrigens 25 Jahre jünger als Livio, diesen wie jede*n Bewerber*in, der*die neu in die Agentur kommt: "Wir haben gleich beim Bewerbungsgespräch einen kleinen Stresstest gemacht und ihn geduzt. Hallo Livio, ich bin der Mathias. Aber er nahm das total locker und hat das auch auf eine Art genossen." Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Selbst wenn sie jetzt davon erzählen, klingt es als würde ein glückliches Pärchen in seiner Kennenlerngeschichte schwelgen. Livio wurde eingestellt.

Für Livio war es das erste Praktikum seines Lebens. Früher seien Praktika noch nicht die große Herausforderung gewesen, erklärt er. Seine Freund*innen konnten über seinen Plan nur mit dem Kopf schütteln: ",Spinnt der? Was soll das? Das ziehst du nie durch!' Ich war damals 68 und mein Umfeld konnte sich nicht vorstellen, ob das geht." Doch Livio sah dem Ganzen gelassen entgegen, ein Attribut, das ihn übrigens nicht nur in Bezug auf diese Situation beschreibt. Nervosität vor dem ersten Tag? "Nein, nein, das hatte ich nicht. Da bin ich zu ausgebufft. Ich hatte ja nichts zu verlieren, ich habe das einfach aus Spaß gemacht."

Vom Leben gelernt: Gelassenheit und Souveränität

In den darauffolgenden drei Monaten ging Livio um halb neun ins Büro (Loft, ist klar) und abends um halb sieben wieder nach Hause. Seine Aufgaben als Praktikant: interne Programme bedienen, Angebote und Rechnungen schreiben, an Pitches mitarbeiten. "Ausgangslage, Zielsetzung war etwas, was ich von früher kannte. Spannend, so etwas in einer ganz anderen Branche noch mal machen zu können." Wenngleich kein Digital Native, war Livio in Word und Power Point schon fit, bei Shootings, Brainstormings, Präsentationen dabei und übernahm ein Projekt für die Zielgruppe 65 Plus. Dass er bereits Berufserfahrung hatte, merkte Livio jedoch weniger bei bestimmten Aufgaben als ganz allgemein: "Ich habe eine gewisse Gelassenheit und habe mich nie wahnsinnig machen lassen." Außerdem brachte er sich direkt ein, gab "Input", wie Livio – ganz Agentursprech – es nennt: "Ich habe vorgeschlagen, man könnte da doch ein paar Standards aufstellen, wie man das Telefon beantwortet und ich habe auch angeregt, wie man neue Mitarbeiter empfangen könnte."

Auch Mathias spürte die 68 Jahre Lebenserfahrung von Anfang an: "Viele Sachen waren für ihn ganz normal. Jüngere Praktikanten haben beispielsweise eher Berührungsängste zum Chef zu gehen." Die Kolleg*innen hätten vor allem von Livios Souveränität profitiert, findet Mathias: "Immer, wenn wir Livio gefragt haben, ob er kurz Zeit hätte, hat er gesagt: ,Wenn ich eines im Leben habe, dann ist es Zeit.' Er war nie gestresst." Gleichzeitig hatte Livio das Gefühl, dass ihm seine Kolleg*innen vielleicht unbefangener gegenüber traten als einem*r jüngeren Mitarbeiter*in, die*der sich noch beweisen muss: "Es war keine Konkurrenzsituation. Es war nicht so, dass jemand dachte, ich könnte etwas wegnehmen. Das hat sich positiv ausgewirkt."

Spielt das Alter eine Rolle?

An eine Situation, in der er sich auffällig älter gefühlt hätte als seine Kolleg*innen, kann Livio sich nicht erinnern. Im Gegenteil: "Die hatten einen Azubi, der war genau 50 Jahre jünger als ich und wir haben gut zusammengearbeitet. Die Idee war ja ein gegenseitiges Lernen." Dass die Rollen in seinem früheren Job genau umgedreht waren, störte ihn nicht: "Ich habe das Spiel einfach mitgemacht. Jetzt war ich einfach derjenige, der gesagt bekommen hat, was zu tun ist." Man dürfe sich eben nicht überlegen fühlen. Agenturmitinhaber Mathias findet für die entspannte Zusammenarbeit noch eine andere mögliche Begründung: "Er ist ein kreativer Mensch, da ist das Alter nicht wirklich ein Zeichen."

Als wir gemeinsam als Agentur zum Mittagessen gingen, dachten die Leute immer sofort, er sei der Boss und er würde die Rechnung bezahlen." – Agenturmitinhaber Mathias

Auch, wenn Livio nicht durch seine Gewohnheiten aus dem jungen Team herausstach, gab er für die Leute von außen doch ein überraschendes Bild ab. "Als wir gemeinsam als Agentur zum Mittagessen gingen, dachten die Leute immer sofort, er sei der Boss und er würde die Rechnung bezahlen", berichtet Mathias lachend. Auch die Kund*innen hätten immer ein wenig verdutzt, aber doch angetan reagiert.

Im Nachhinein wundert sich Livio am meisten darüber, wie schnell er wieder in einen Arbeitsrhythmus fand. Schließlich hatte er vorher keine Tagesstruktur, ließ sich bei seinen Unternehmungen einzig vom Wetter inspirieren. So gilt für ihn auch jetzt wieder: "Ich mache keine fixen Termine mehr, zum Beispiel auch nicht beim Frisör. Wenn ich das Gefühl habe, es ist ein Tag, an dem meine Haare Pflege bräuchten, gehe ich in die Stadt und finde einen."

Ein Jahr später und immer noch in Kontakt

Das Praktikum ist jetzt fast ein Jahr her, Livio und die Werbeagentur halten Kontakt. Heute arbeitet er ab und zu projektbezogen für das Unternehmen, schaut immer mal wieder dort vorbei. Im Nachhinein wäre eine Karriere in der Werbebranche aber wohl nicht Livios Lebenstraum gewesen. "Ich glaube nicht, dass ich ein guter Werber geworden wäre. Da muss man schon ein bisschen ein Schlitzohr sein", meint er lachend. In drei Monaten wird Livio 70 Jahre alt. Ein Praktikum würde er jederzeit wieder machen: "Man sollte das mehr anbieten, nicht nur in einer Werbeagentur. Das Kapital, das ältere Menschen noch in sich haben, könnte besser genutzt werden." Eine Frage bleibt jedoch: Würde dadurch den jungen Leuten ein Arbeitsplatz weggenommen? Mathias sieht das gelassen, schließlich wäre beispielsweise Livios Stelle genau für einen Praktikanten Ü65 geschaffen worden. Er blickt eher auf die Vorteile: "Ein gutes Team braucht Männer und Frauen, alte und junge Leute, wenn möglich auch verschiedene Kulturen." Am Ende profitieren bestenfalls alle davon.