Ein ausgeleuchteter Hotelflur. Synthesizer-Akkorde. Eine Frau, die in Schwarz gekleidet mit dunklem Make-up und Marilyn-Monroe-Frisur selbstvergessen hindurchschlendert. Vorbei an offenen Türen, die den Blick auf Männerkörper offenbaren, die als Frauen performen, sich überdeckt mit Perlenketten zu der Musik räkeln. Eine Frauenstimme singt:

I want to run naked in a rainstorm
Make love in a train cross-country
You put this in me
So now what, so now what?

Wenige Sekunden später liegt die Frau aus dem Korridor in Spitzenunterwäsche auf einem Bett, packt den über ihr gebeugten Mann an der Kehle, um ihm den Weg zu ihrem Körper zu weisen, verliert ihn nicht aus den Augen, zeigt der Kamera nie den Rücken, ist Herrin über ihren Körper, selbst wenn sie sich vor dem Mann hinkniet, um ihn zu befriedigen. Ihr voyeuristischer Blick beunruhigt, vielleicht, weil er ausnahmsweise der einer Frau ist.

I don't want to be your mother
I don't want to be your sister either
I just want to be your lover

Frauengesichter tragen in dieser Welt aus schwarz-weißen Bildern Schnurrbärte, schwingen Peitschen, der Liebhaber der Frau küsst in einem anderen Raum einen Menschen mit männlichem Körper, schwarze Haare verschwimmen mit schwarzem Leder. Die Frau verlässt lachend die Party, der blonde Schopf ist nun zerzaust. Are you scared?, fragt die Stimme aus dem Hintergrund.

Das sind Szenen aus Madonnas Musikvideo zu der Single Justify MyLove aus dem Jahre 1990. Dieses Video ist revolutionär und großartig. Und es hat tatsächlich einigen Leuten Angst eingejagt. Der US-amerikanische Musiksender MTV verbannte es schnurstracks aus dem Programm.

Nur ein Jahr später veröffentlichte hingegen der Rockmusiker Chris Isaak sein Musikvideo zu Wicked Game, in dem das Model Helena Christensen sich vier Minuten lang – barbusig, an ihren Fingern lutschend und über ihren Hintern streichelnd – von Isaak vernaschen lässt. Die meiste Zeit auf einem Baumstamm. Im selben Jahr bei den MTV Video Music Awards gewann der Clip mehrere Preise, darunter für das Best Male Video. Okay. Leicht bekleidete Frauenkörper sind willkommen, wenn sie zur Kür für das beste männliche Video verhelfen. Leicht bekleidete Frauenkörper, die sich selbstverständlich nehmen, was sie wollen? Geht gar nicht. Erotische queere Körper? Oh Gott! Sorry, heute kein Sendeplatz für dich.

Leicht bekleidete Frauenkörper sind willkommen, wenn sie zur Kür für das beste männliche Video verhelfen."

Like a Prayer wurde nur in der Nacht ausgestrahlt

Ich bin in den späten 90ern und 2000ern in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Begriffe wie "Feminismus", "Queer" oder "Empowerment" genauso rätselhaft waren wie das Geheimnis einer reinen Haut. Nachmittags nach der Schule wurde MTV geschaut. Punkt. In diesem gnadenlosen Universum des Massengeschmacks gab es zwei Typen von Frau: die, die sich zu dekorativen Zwecken an teuren Autos reiben und ihre Finger wund lutschen muss, während ein Typ singt, wie hot sie ist. Oder die, die mit Kulleraugen, langen Haaren (eventuell auch Finger im Mund) und naiver Unschuld die Welt bittet, nicht allzu hart zu ihr zu sein.

Selbstverständlich gab es in meiner frühen Jugend auch schon Stars wie Beyoncé, die feministische Ikone in der Welt des musikalischen Kommerzes unserer Gegenwart, die selbstbewusst in die Kamera I’m a survivor! schrien. Aber, nichts für ungut, das waren noch Zeiten, in denen Beyoncé in Interviews fast schon eidesstattlich erklärte, als gute Christin jungfräulich in die Ehe zu gehen. Erzählungen und Werte, die mich damals in meinem eigenen Umfeld belasteten und aus denen ich als junge Frau ausbrechen wollte. Also habe ich mir im Mainstream, in dem ich nun mal gefangen war, ein Vorbild aus der Vergangenheit gesucht: Madonna.

Madonna ist die kommerziell erfolgreichste Sängerin der Welt. Madonna hat mehrere Einträge im Guinness-Buch der Rekorde. Madonna machte zwei Jahrzehnte mit Kegel-BH Krawalle im weißen Popgeschäft. Natürlich nicht immer, aber oft genug – alles andere wäre zu kostspielig gewesen.

,Like a Prayer'

Ein Jahr vor Justify My Love hatte sie Like a Prayer veröffentlicht. Zehn Jahre später noch saß ich als Kind vor der Flimmerkiste und habe nicht verstanden, warum das etwas in mir auslöst: ein Schwarzer, der im Fernsehen als Heiliger auftritt. Für mich war das ein Bild, das ich noch nie zuvor gesehenen hatte, für viele US-Amerikaner*innen hingegen Blasphemie. Dazu kamen noch ein paar brennende Kreuze auf einem Feld und der erotische Subtext (ich habe tatsächlich erst vor vier Jahren verstanden, dass es da ganz eventuell um Oralsex gehen könnte) und schon wurde auch dieses Musikvideo von MTV abgesetzt. Madonnas Werbevertrag mit Pepsi war geplatzt. In Deutschland wurde Like a Prayer nur in der Nacht ausgestrahlt. Als wäre das Video so schmuddelig wie die nächtlichen Softpornos auf Kabel1, in denen alte Männer ihre jungen Stieftöchter verführen.

Gräbt man noch weiter in Madonnas und meiner Vergangenheit, stößt man auf Papa Don’t Preach aus dem Jahre 1986. Madonna erzählte mal in einem Interview, sie verbinde das Lied mit der katholischen Kirche – sie wurde sehr christlich erzogen und besuchte eine Klosterschule – und ihrem konservativen Vater. Der Song handelt von einer jungen Frau, schwanger, die gegen den Willen ihres Vaters das Kind behält, mit ihrem Freund an ihrer Seite. Auch diese Geschichte habe ich zwar gänzlich erst viel später verstanden, doch da war das Lied bereits zu meiner eigenen Rebellionshymne gegen die väterliche Autorität geworden:

Während Madonna Papa don't preach, I've been losing sleep | But I made up my mind, I'm keeping my baby sang und eigentlich das Baby in ihrem Bauch meinte, malte ich mir das Szenario aus, wie ich eine eventuelle leidenschaftliche Liebe, meinen Freund, mein Baby, gegen meinen konservativen Vater verteidigen würde. Es ist eigenartig, dass mich dieses Lied so berührte, weil ich mich, als Tochter eines strengen türkischen Daddys, in Madonna, als Tochter eines strengen italienischen Daddys, repräsentiert fühlte.

Irgendwann wurde Achselhaar-Madonna zu Cowgirl-Madonna

Vor dem musikalischen Durchbruch mit ihrem Debütalbum im Jahre 1983 hatte Madonna sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten: Sie kellnerte, verkaufte Donuts und machte Nacktaufnahmen. Diese Fotos, die auch später in Millionenauflage im Playboy und Penthouse erschienen, kann man sich unter anderem im Erotikmuseum in Amsterdam ansehen. Und vor diesen Bildern stand ich als 17-Jährige. Ich war fasziniert von dieser Frau, die auf die Tücken des Lebens antwortete, indem sie mit ihrem Körper das anstellte, was sie wollte. Ich beschloss, mir wie Madonna die Achselhaare wachsen zu lassen. Irgendwann.

Ich beschloss, mir wie Madonna die Achselhaare wachsen zu lassen. Irgendwann."

In meinem Universum existieren zwei Madonnas. Die eine der Vergangenheit, die im Laufe der Jahre zu einem Vorbild wurde, und die meiner Gegenwart, die als texanisches Cowgirl in Don’t Tell Me zu ausgedienten Singer-Songwriter-Takten trällerte oder in einer Limousine Champagner schlürfte, in einem Stripclub Schwarze Frauen mit Geldscheinen fütterte und zu nervigen elektronischen Beats Banalitäten wie Hey Mister D.J. | Put a record on | I want to dance with my baby von sich gab. Letztere habe ich einfach ausgeblendet.

Mit Anfang Zwanzig habe ich Madonna endlich bei einem Konzert live gesehen. Mehr als zwei Stunden lang raste und steppte sie über die Bühne, getragen von Schuhen, deren Absätze niemals die obligatorischen zehn Zentimeter unterschritten. Sie erinnerte ihr Publikum an diesem Abend daran, was sie sich mal auf die Fahne geschrieben hatte, denn begleitet wurde ihre Show von einer Gruppe von Tänzer*innen – Weiße, Schwarze und People of Color, Cisfrauen und -männer und queere Personen, die sich mal mehr, mal weniger bekleidet auf der Bühne und an meterhohen Kreuzen räkelten.

Wenn Sexszenen dargestellt wurden, war es egal, wer mit wem in der Kiste landete. Männer tanzten und küssten sich in engen Röcken in der Kölner Lanxess Arena, wo eine Woche zuvor noch Mario Barth seine schlüpfrigen Witzchen über Frauen und Schwule verbreiten durfte.

Dennoch merkte ich an diesem Abend, dass es Zeit war, Schluss zu machen. Dass ich spätestens jetzt neue Idole brauchte. Der Grund war weniger, dass der Gesang zu wünschen übrig ließ – wie beruhigend, dass auch eine Madonna nach einem zweistündigen Work-out nicht immer ihre Stimmbänder unter Kontrolle hat –, sondern dass ich nicht mehr das 16-jährige Mädchen war, das lernen musste, dass ihr Körper keine eineinhalb Meter lange Scham- und Kampfzone ist.

Das hatte ich nun, auch dank Madonna, hinter mir. Jetzt waren wir gemeinsam in der Gegenwart angekommen. Ich brauchte nun einen geschriebenen, gesprochenen und gesungenen Feminismus, der meine Sorgen artikulierte im Arbeitsleben ausgebeutet zu werden, von sexualisierter Gewalt und Rassismus betroffen zu sein, bei der Wohnungssuche diskriminiert zu werden. Ich bin nicht Weiß und nicht reich. Ich habe nicht endlos Zeit, meinen Körper zu stählen.

Manches kann sich nur Madonna erlauben

Mehrere Jahre hat Madonna anschließend in meinem Leben keine Rolle gespielt, auch wenn es La Isla Bonita auch in diesem Jahr wieder in meine Sommerhits-Playlist auf Spotify schaffte. Als ich im Januar 2017 jedoch gerade den Women’s March in Washington D.C. streamte, tauchte neben Bürgerrechtlerinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen jeglichen Alters und kulturellen Backgrounds auch Madonna auf. Ich schmunzelte zunächst über ihr T-Shirt mit der Aufschrift: Feminism is the radical notion that women are people. Und noch mehr schmunzelte ich, als sie zwischen dem ständigen "Fuck you!" sagte, sie habe mal darüber nachgedacht, das Weiße Haus in die Luft zu sprengen.

Madonna mit ihren Lederhandschuhen, Springerstiefeln und orangen Baggy Pants darf das und wirkte wieder wie ganz die alte: unbändig und rebellisch. Undenkbar, wie es gewirkt hätte, wenn eine Hidschab tragende Frau so etwas verkündet hätte. Aber ist es nicht trotzdem wichtig, dass ein internationaler Popstar namens Madonna Dinge sagt wie: "Where not just women are in danger, but all marginalised people?" Und könnte Frau ihr nicht gratulieren und sich bedanken, dass Madonna nach sechzig Jahren Ruhm, Zungenküssen mit jüngeren Kolleginnen, Pop, Skandalen und einer Menge Kohle solche Sätze von sich gibt und noch mehr gegeben hat? Doch, das könnte sie. Also: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Madonna. Es ist schön, dass es dich gibt.