Ein Laden schließt, ein anderer macht auf. Mehr ist nicht passiert. Und doch ist so viel passiert.

Vor einigen Monaten hat Heja einen Späti bei uns im Kiez aufgemacht. Heja ist um die 30, Unternehmer und er hatte Lust dazu. Heja hatte Glück: Die Position ist perfekt, man blickt von den Bierbänken aus auf einen recht offenen Platz, sieht viel Himmel, das ist nicht so häufig der Fall im Berliner Zentrum.

Man sagt, Bewegung sei gesund. Ich denke, dass das stimmt. Was für eine Stadt völlig unerheblich ist, kann für einen Kiez die Welt bedeuten. An der Ecke war vorher nicht viel los, die vegane Eisdiele nebenan wurde und wird gut besucht, aber das war's auch schon. Seit Heja seinen Laden aufgemacht hat, ist das anders. Die Menschen in den umliegenden Straßen werden regelrecht davon angezogen. Eigentlich ist fast immer jemand da. Wenn man so will, ist an einer toten Stelle in der Stadt jetzt wieder Leben.

Wie ein sozialer Knotenpunkt entsteht

Eine der ersten urbanen Fabeln, die ich in Berlin hörte, war die des Stammspäti. Ein Ort, an den du immer gehen kannst, wenn du was brauchst, wo man dich kennt, wo du ohne Scham abstürzen und dich wieder hochraffen kannst, wo dich niemand schief anguckt und wo die Realität Sendepause hat, wenn du mal wieder die Schnauze voll hast. Ein sozialer Ankerpunkt. Ich hatte das lange nicht. Jetzt hab ich das.

Hejas Späti ist schon eine Institution im Kiez geworden. Mehr als 30 Leute kenne er schon mit Namen, sagt er. Er hat viele Stammgäste, Freund*innengruppen, die den ganzen Abend da verbringen. Ich muss immer lachen, wenn Heja sich gerade eine Kippe angesteckt hat, dann aber wieder rein muss, weil schon wieder Gäste kommen. Man merkt ihm an, dass er das gerne macht. Er räumt leere Flaschen vom Tisch, leert Aschenbecher, gibt in langen Abenden eine Runde Schnaps aus. Muss er alles nicht, macht er aber. Heja ist mehr Gastgeber als Ladenbesitzer.

Für mich hat er mein Zu-Hause-in-Berlin-Gefühl stärker gemacht. Ich habe im vergangenen Jahr ein starkes soziales Netz aufbauen können: Ich habe tolle Menschen um mich, starke Beziehungen, enge Freund*innen, mit denen ich lachen und mich auskotzen kann. Mir waren aber auch schon immer die Menschen wichtig, die man über andere kennt, oder die einem eben über den Weg laufen. Menschen, die man mag, die nur ab und zu da sind und unser Leben trotzdem so bereichern. Und der Späti wurde zu einem Ort, an dem ich vermehrt solche Menschen treffe. Alle sind unterschiedlich, kommen woanders her.

Es ist dadurch auch ein Ort, an dem die Grenzen der Kommunikation ausgelotet werden. Und meines Erachtens auch einer, an dem kulturelle Unterschiede und Vorurteile überwunden werden können, wenn auch nur im Kleinen.

Wo man noch miteinander redet

Ich könnte eine ganze Liste interkultureller Begegnungen aufsetzen, bei denen es teils auch mal hitzig zugeht: Da ist der marokkanische Monteur, der mit der kolumbianischen Studentin über den Klimawandel philosophiert. Der österreichische Intellektuelle, der mit einem japanischen Koch über belgisches Bier diskutiert. Der slawische Gasinstallateur im Blaumann, der einen Feierabendjoint mit kalifornischem Lemon Haze rumgehen lässt. Die Jungs aus Chile, die mit dem Pärchen aus Amsterdam darüber streiten, dass die Deutschen doch gar nicht so sind, wie immer gesagt wird.

Klar, die Herkunft sagt viel weniger über Menschen aus, als viele es gerne hätten. Aber das sind unterschiedlichste Lebensrealitäten, die da aufeinander treffen. Und die eigene Herkunft spielt tatsächlich fast immer, in allen Gesprächen, eine Rolle – und mittlerweile denke ich: Warum eigentlich nicht? Was könnte interessanter sein, als die Erfahrungen eines Menschen, der nicht aus dem eigenen Kaff kommt?

Das birgt natürlich auch Potenzial für Spannungen – oder dafür, dass jemand sich unsensibler verhält, als es ihr*m bewusst ist. Ich habe schon ein paar Momente miterlebt, bei denen es Grenzüberschreitungen und auch Rassismus gab. Ich hatte auch einmal erwartet, dass es eskaliert. Aber es blieb ruhig, weil die Leute die Bereitschaft gezeigt haben, miteinander sprechen zu wollen. Sie haben das ausdiskutiert, zwar etwas energischer, aber immerhin. Danach haben sie angestoßen.

Ja, das klingt romantisch und auch vielleicht utopisch. Aber irgendwie beruhigt mich das und lässt mich hoffen. So eine Form der rohen Harmonie kann es geben, wenn man sich nicht vor ihr verschließt. Und wenn man bereit ist, zu lernen und sich selbst infrage zu stellen.

Das gute Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit

Die Welt scheint mir hier, beim Späti, ein bisschen mehr in Ordnung als anderswo. Mit Heja selbst ist da außerdem immer jemand, mit dem man sich unterhalten kann. Er kennt Geschichten aus dem Kiez, klar, er hört ja auch immer neue. Ich setze mich oft nach der Arbeit zu ihm, Cola, Austausch über dies und das. Ich will das nicht missen, es ist ungemein beruhigend, auch einfach mal spontan ein gutes Gespräch führen zu können, wenn man es gerade fühlt.

So was ist auch für neu Zugezogene eine super Sache. Einen besseren Stadtführer kann man gar nicht finden als den Späti um die Ecke. Hier trifft sich alles und jede*r, man hört die verrücktesten und spannendsten, die lokalen und echten Geschichten, bekommt Tipps, wenn man nach ihnen fragt.

Es wäre vermessen zu sagen, ein Späti sei doch nichts anderes als eine Kneipe, denn er ist es doch: Die Atmosphäre ist noch mal ein ganzes Stück ungezwungener, der Zugang niedrigschwelliger. Hier kann kommen, wer will, sich ein Getränk besorgen, aber niemand muss sich zum Trinken hinsetzen, sondern kann einfach weitergehen. Oder eben dableiben. Spätis in Berlin haben ihren ganz eigenen Charme, das wissen alle, die mal in einem waren. Sie sind fester Teil der Kiezkultur.

Naja. Ist spät geworden letzte Nacht. Heja, Olli, ein Nachbar, den ich an dem Abend kennenlernte und ich schwärmten bis drei vor uns hin, wie der Späti den Kiez verändert hat und was noch so kommt. Heja plant, ein Grillfest zu veranstalten, gegenüber auf dem Platz, arabisch, viel Fleisch, für Bier zahl so viel du willst. Er muss sich noch um eine Genehmigung kümmern. Heja will was zurückgeben, an uns. Wir sind jetzt Teil seiner Familie, sagt er.

Ja, es ist so einiges passiert hier in vergangenen Monaten. Fühlt sich gut an, Teil so eines Wechsels zu sein, der ja so symptomatisch für diese Stadt ist. Alles ändert sich hier immer so rasant, das ganze Stadtbild, die Menschen kommen und gehen, Läden machen auf, machen zu. Alles ist in Bewegung.

Ich hoffe, dass Hejas Späti noch eine Weile bleibt.

Schickt mir gerne eure Spätigeschichten an till.eckert@ze.tt – schöne, traurige, besondere, ich interessiere mich für alles!