Es ist ein Versager, ein Taugenichts, ein Unangepasster. Und doch und gerade deswegen lieben es die Menschen: Gudetama. Das faule geschlechtslose Eigelb ist Teil der Sanrio-Familie, zu der auch Hello Kitty gehört. Gudetama ist aber mehr als das süßtraurige Gelbe vom Ei.

Sind die süüüüß

Es spiegelt die japanische Kawaii-Kultur wider, die sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgebildet hat. Als sich die japanische Gesellschaft von den Ereignissen erholte, besannen sich viele zurück auf das Schöne und Kindliche, aber auch auf ihre verletzliche Seite (PDF). In der Nachkriegszeit etablierte sich so das zurückhaltende und schüchterne Verhalten, das bis heute in Japan als wünschenswert erachtet wird, wie Kumiko Sato (PDF) und Leila Madge (PDF) erklären. Kawaii steht für das Kindliche, Niedliche und Süße – aber auch Hilflose und etwas Erbärmliche. Es steht für etwas, das in einem das Gefühl auslöst, sich kümmern zu wollen.

Besonders sichtbar wurde die Kawaii-Ästhetik, als in den 1970er Jahren Schulmädchen anfingen, in großen runden Buchstaben verziert mit Herzchen und kleinen Figuren zu schreiben. Mitte der 80er-Jahre schrieben bereits über fünf Millionen junger Schüler*innen in diesem Stil, beschreibt Sharon Kinsella der University of Manchester, die das Süße in der japanischen Kultur erforscht (PDF). "Diese Popkultur ist fast vollständig der Flucht vor der Realität gewidmet. Die süße Kultur bietet vielen Menschen einen Notausgang in Kindheitserinnerungen", sagt sie.

Was als Trend unter Jugendlichen begann, wurde schnell von der Industrie aufgegriffen und erstrahlte später in Massen von süßen Mangas. Die Firma Sanrio perfektionierte die Vermarktung des Konzepts, indem sie immer neue Figuren wie Hello Kitty erfand und sie massenhaft in Produkte aller Art verwandelte.

Unverkennbar ist Kawaii an bunten Pastellfarben, abgerundeten Formen, großen Augen, Glitzer und süßen Tierchen aller Art. Mittlerweile sind viele Menschen in Japan süchtig nach süß und so findet man verniedlichte Symbole überall: auf Straßenschildern, in Bussen, Bahnen oder Restaurants. Auch mit Klamotten drücken manche Japaner*innen ihre Sucht nach dem Lieblichen aus. Sie versuchen selbst, kawaii zu sein. Über die Jahre hat sich daraus ein eigener Streetstyle in Harajuku, einem Stadtteil von Tokio, entwickelt.

Während das Schöne in der westlichen Kultur meist auch tatsächlich ästhetisch aussieht, kann in Japan auch süß sein, was schrecklich ist. Und so haben sich Unterformen von Kawaii entwickelt: von grotesk-schön über gruselig-süß bis hin zu sexy-niedlich. Kimo-kawaii nennen die Japaner*innen Figuren, die schrecklich und süß zugleich sind. Es bedeutet so viel wie: Das ist süß und löst doch ein negatives Gefühl aus. So wie beispielsweise die Kobitodukan – einer Gruppe Comicfiguren, die eine irritierende Mischung aus Obst oder Gemüse und alten Männern zu sein scheinen.

Auch Gudetama schafft es trotz seiner trostlosen Existenz die Menschen zu bezirzen. Es ist nicht klassisch süß, aber auch nicht schrecklich. Vom Aussehen passt das faule Ei wohl eher in die Kategorie kurios-süß mit seinem Kopf ohne Hals, seinen Armen ohne Finger und seiner kleinen Poritze. Gudetamas Charme kommt allerdings von seiner Persönlichkeit.

Der Taugenichts gewinnt

2013 rief Sanrio einen Wettbewerb aus. Das Unternehmen suchte einen Charakter, der auf einem Lebensmittel basieren sollte. Aus allen Einsendungen durfte ein Publikum für ihren Favoriten wählen. Gudetama kam auf Platz Zwei. Die meisten Herzen überzeugte aber Kirimichan, ein fröhliches Lachsfilet.

Nach dem Wettbewerb produzierte die Firma massenhaft Produkte beider Figuren. Obwohl das faule Eigelb beim Wettbewerb nur den zweiten Platz belegte, verkauften sich dessen Artikel auffallend besser. Auf dem freien Markt wurde Gudetama zum Liebling – und das trotz seine apathischen Art. Nach dem Erfolg von Hello Kitty und ihren fröhlichen Gefährten war dieser Erfolg doch überraschend.

Mittlerweile gibt es im offiziellen Sanrio-Shop nur zwei Produkte mit Kirimichan, einen Jutebeutel und eine Handytasche. Das Eigelb ziert hingegen ganze 121 Artikel von Stickern, Schlafmasken, Schals, Tassen, einem Zelt und einem Skateboard. Aber der Trend geht darüber hinaus: Mittlerweile gibt es ein Gudetama-inspiriertes Restaurant oder ein Flugzeug. 282.000 Menschen folgen dem offiziellen Gudetama-Account auf Instagram.

Ein Antiheld der Leistungsgesellschaft

Die größte Fangruppe sind nicht etwa Kinder, sondern Erwachsene. Was Gudetama so liebenswert macht, ist nicht sein süßes Aussehen, sondern seine menschlichen Eigenschaften. Und zwar die negativen: Es ist müde und melancholisch. Es ist zu faul, aus seiner Schale zu kommen. Es verkriecht sich lieber unter einer Decke aus Speck, als in die Welt hinauszuziehen. "Ich kann nicht", ist einer seiner typischen Sätze. Kurze Videos erzählen aus Gudetamas Leben, in dem es kaum mehr schafft als herumzuliegen – und trotzdem jammert und stöhnt.

Gudetama ist lethargisch und offen pessimistisch. Und das lieben die von der Hektik der modernen Gesellschaft geplagten Menschen in Japan. Das faule Eigelb verkörpert die Unerträglichkeit des seins und eine Lebensmüdigkeit, die manch ein*e Japaner*in spürt, aber sich im echten Leben nicht leisten kann. In einem Land, in dem Tüchtigkeit als eine Tugend gilt und manche Menschen sogar an Überarbeitung sterben, ist eine apathische Figur wie Gudetama eine Rebellion gegen die Leistungsgesellschaft. Es tröstet die Menschen, dass schon ein Ei so wenig Grund zur Apathie haben kann – und dabei gleichzeitig liebenswert wirkt, ohne happy sein zu müssen.

Von seinem Verhalten her kann Gudetama einer Unterkategorie von Kawaii zugeordnet werden: yuru-kawaii – wobei yuru für locker, lässig oder ruhig steht. Das Lässig-süße steht für den Müßiggang, den sich viele Japaner*innen im echten Leben nicht leisten können. Yuru-kawaii ist der Gegenentwurf zum Konservatismus, zur Leistungsgesellschaft und den Maximen schneller-höher-weiter.

"Die fanatische Natur der süßen Kultur enthält so wenig Referenzen zum echten Leben und der Gesellschaft, dass es im Alltag kaum Platz hat", schreibt Sharon Kinsella in ihrer Analyse. Anders gesagt: Figuren wie Gudetama drücken aus, wonach sich viele Menschen in Japan sehnen und was ihnen verwehrt bleibt. Ihr Konsum bringt nicht nur eine Identifikation, sondern vor allem eine kurze Erholung vom Alltag. Wenn sie schon nicht selbst prokrastinieren können, wollen sie sich wenigstens den Anblick eines faulen Eigelbs gönnen.

"Ich möchte nach Hause gehen"

Auf den ersten Blick scheint Gudetama und der ganze Hype um ihn skurril zu sein. Doch wenn wir an die unzähligen Hunde- und Katzenvideos auf unseren heimischen Bildschirmen denken, wirkt die süße Sucht der östlichen Nachbarn gar nicht mehr so abstrus. Dann können viele von uns verstehen, warum es beruhigend sein kann, ein trauriges faules Ei anzugucken. Eine Studie der Hiroshima University in – nicht überraschend – Japan konnte sogar wissenschaftlich beweisen, dass der Anblick von süßen Bildern entspannter, konzentrierter und damit produktiver macht.

Gudetama ist nicht nur süß, es ist ein Rebell – wenn auch ein passiver. Seine Emotionen sind so nachvollziehbar wie mutig, denn es jammert stellvertretend über die kleinen und großen Dinge, über die Menschen täglich drüber zu stehen versuchen, um ihr Leben auf die Reihe zu bekommen.

Immer wieder fragt es in den kurzen Videosquenzen, ob es nach Hause gehen darf. Wo das ist, erklärt es nie. Zu faul. Und das macht nichts, denn seine Passivität kann ihm niemand verübeln. Wer möchte nicht in aufwühlenden Zeiten nach Hause gehen, sich unter einer warmen Speckdecke verstecken und nichts mehr erklären müssen?