Wann Mira* Sex haben wird, kann sie auf den Tag genau ausrechnen. Spritze in den Bauch, vierundzwanzig Stunden warten, dann ein Eisprung – der Hoffnungsschimmer für Miras größten Wunsch. Der Wunsch, der sie seit vier Jahren begleitet: ein eigenes Kind. Die 28-Jährige hat ihren Master-Abschluss fast in der Tasche, hat einen Freund, der sie liebt und einen Job, der ihr Spaß macht. Und sie wollte schon immer früh Mutter werden. Aber Mira hat das PCO-Syndrom.

"Ich war erst mal geschockt", erinnert sich die gelernte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin an den Tag, als ihr Frauenarzt ihr die Diagnose mitteilte. Durch ihre Ausbildung wusste sie sofort, wofür PCO steht: polyzystische Ovarien. Der Name steht für eine hormonelle Störung, durch die sich in den Eierstöcken zwar viele kleine Eibläschen sammeln, weil der Körper aber zu viel männliches Hormon Testosteron produziert, reift nie oder nur sehr selten eine Eizelle heran, welche auch befruchtet werden könnte.

Bei zehn bis zwölf Prozent der Frauen wird diese hormonelle Veränderung diagnostiziert, die Dunkelziffer liegt allerdings viel höher, vermuten Frauenärzt*innen.

Bei zehn bis zwölf Prozent der Frauen wird diese hormonelle Veränderung diagnostiziert, die Dunkelziffer liegt allerdings viel höher, vermuten Frauenärzt*innen. Denn "erkennbar wird PCO häufig erst, wenn die Frau nicht mehr hormonell verhütet und die Symptome auch spürbar werden", sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzt*innen. Die Symptome, das können starke Körperbehaarung und unreine Haut sein, die durch das übermäßige Testosteron im Hormonhaushalt verursacht werden. Häufig kommt auch eine Störung der Zuckerverwertung hinzu, die erhöhtes Insulin im Blut zur Folge hat – und Übergewicht.

Während Frauen die Pille nehmen, bleibt das PCO-Syndrom meistens unentdeckt

Mira, die Master-Studentin aus Berlin, ist jedoch schlank. "Die äußeren Kriterien sind längst nicht bei allen Frauen mit PCO erfüllt", sagt Prof. Dr. Thomas Strowitzki, ärztlicher Direktor der Abteilung Gynäkologische Endokrinologie und Fertilitätsstörungen an der Uniklinik Heidelberg. Auch deshalb sei das PCO-Syndrom, kurz PCOS, so wenig bekannt, "dabei haben wir das super oft hier", sagt Strowitzki. Hier, damit meint er die Kinderwunschambulanz der Frauenklinik.

Gemeinsam haben die meisten Frauen mit PCOS, dass sie nie oder nur sehr selten ihre Tage haben, sobald sie die Pille absetzen. Ob und wie lange eine Frau die Pille nimmt oder nicht, hat keinen Einfluss darauf, ob sie die Hormonstörung bekommt oder nicht. Aber durch die weiblichen Hormone des Verhütungsmittels sind alle Symptome von PCOS wie weggezaubert. Die Frau hat also keine Ahnung, dass sie es überhaupt hat. In Deutschland verhüten 75 Prozent der jungen Frauen mit Hormonen, wenn sie anfangen, regelmäßig Sex zu haben. Genau in der Zeit also, in der das PCOS sich entwickelt: zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr.

Krankheit war früher evolutionärer Vorteil

Ob eine Frau die Krankheit bekommt oder nicht, hängt laut Expert*innen des Universitätsklinikums in Graz auch von genetischen Bedingungen ab. Weil das PCOS in verschieden Teilen der Welt unterschiedlich häufig und in anderer Form vorkommt, gehen die Forscher*innen davon aus, dass auch Umwelteinflüsse wie Ernährung, Bewegung und Lebensstil ein Rolle dabei spielen könnten, ob die Hormonstörung auftritt oder nicht. So häufig ist PCOS vermutlich deshalb, weil Frauen damit früher einen evolutionären Vorteil hatten: Zum Beispiel, weil bei ihnen wegen der seltenen Eisprünge der Abstand zwischen den Schwangerschaften größer war als bei anderen Frauen. Das könnte das Überleben von Müttern und Kindern gefördert haben.

Heute fühlen sich Frauen mit dem Syndrom aber vor allem ausgegrenzt. "Am Anfang hat mich das sehr belastet", sagt Mira und meint damit Sex auf Knopfdruck, "egal, ob ich gerade müde bin oder gar keine Lust habe", wie sie es sagt. Ovitrelle oder Ovaleap heißen die Hormone, die sie sich an bestimmten Tagen ihres Zyklus spritzt. Die Möglichkeit einer Schwangerschaft mit einer oft jahrelangen Hormontherapie schätzt Strowitzki, der Professor von der Uniklinik Heidelberg, auf um die 20 Prozent pro Zyklus.

"Was, wenn er sich deswegen von mir trennt?"

Auch gesunde Paare unter 30 hätten nur eine monatliche Schwangerschaftsrate von weniger als 30 Prozent, erklärt der Mediziner. Was gesunde Paare aber nicht haben: Angst, Scham, Selbstverachtung. "Ich fühle mich nutzlos", sagt eine, die die Diagnose PCOS erst vor ein paar Monaten bekommen hat. Nathalie* ist 30, die Pille hat sie vor einem Jahr abgesetzt. Vor zwei Jahren hat sie ihren Traumtypen geheiratet, mit ihm eine Wohnung gekauft und will eine Familie gründen. Trotzig wirft sie die Packung Hormontabletten zurück in ihren Kosmetikbeutel. "Was, wenn er sich deswegen von mir trennt?", fragt sie, Tränen steigen in ihre Augen. Weinen, das kann sie manchmal wochenlang. Zu Hause, wenn sie niemand sieht.

Dabei gibt es Hilfe. So kann zum Beispiel bei starker Behaarung und unreiner Haut durch PCOS schon eine regelmäßige Hormonbehandlung helfen. Eine konsequente Diät und viel Bewegung können die Insulinresistenz aufheben, den Testosteronspiegel senken und so dazu beitragen, dass die Frau ohne weitere Maßnahmen schwanger wird. Der Verein PCOS Selbsthilfe Deutschland versorgt betroffene Frauen außerdem mit aktuellen Studien zum Thema – und mit persönlicher Beratung. Auch auf Instagram machen sich betroffene Frauen Mut, tauschen Infos und Ernährungstipps aus – zum Beispiel unter #pcosfighter.

Ich mache irgendetwas falsch, ich fühle mich nicht als Frau: Das sind die Sätze, die Susanne Quitmann regelmäßig hört. "Den jungen Frauen wird eingebläut, sie sollen bloß immer verhüten, weil sie sonst sofort schwanger würden", sagt die Psychologin und stellvertretende Vorsitzende des Beratungsnetzwerks Kinderwunsch Deutschland (BKiD). Dass es auch normal sei, nicht oder nur schwer schwanger werden zu können, erwähne niemand, sagt Quitmann. Die Frauen hätten deshalb das Gefühl, nicht zu funktionieren.

Mira und Nathalie wollen weiterkämpfen. "Wir versuchen alles, damit ein Paar ein Kind bekommen kann", sagt der Gynäkologe Strowitzki über die Arbeit in der Kinderwunschambulanz. Künstliche Befruchtung sei auch mit PCOS das letzte Mittel der Wahl. Mit guter hormoneller Behandlung und viel Geduld sei alles möglich. Doch Nathalie spürt den Druck. Job, Wohnung, Traummann, ist doch alles da, muss sie sich anhören. Erklären, was los ist, will sie auf keinen Fall. Wie lange sie das noch aushält, weiß sie nicht.

*Namen von der Redaktion geändert