Christoph hat sich Mühe gegeben. Kann man nicht anders sagen. Schwarz-Weiß-Foto, ein bisschen arty. Er ist 186 Zentimeter groß und macht was mit Design. Aber Jonathan hat es auch versucht. Drei Bilder. Am Strand, in der Kneipe, beim Klettern. Und Olli und David und Janos: "Frag mich einfach", "#lebenamlimit", "Gute Laune ist die beste Laune".

All diese Jungs sind auf Tinder. Was genau sie dort suchen? Sex, Ablenkung oder vielleicht jemanden, den*die sie zweimal sehen möchten? Keine Ahnung. Was sie suchen, werden wir wohl nie erfahren. Aber was sie bekommen, da können wir uns ziemlich sicher sein: Eine ordentliche Kränkung fürs Ego.

"Das macht mich so fertig"

Denn die Dating-App Tinder, mit mittlerweile mehr als zwei Millionen User*innen in Deutschland, entwickelt sich zum männlichen Selbstzerstörer. Sie sorgt dafür, dass das Selbstbewusstsein der Jungs in den Keller rutscht. Und dass Christoph, Janos, David und all die anderen sich langsam aber sicher fragen, was denn nicht mit ihnen stimmt.

Auf der Plattform Reddit versuchen sich die gekränkten Egos schon in Dutzenden Threads gegenseitig zu erklären, wie es dazu kommen konnte. "Die absolute und ständige Abweisung mit der man als Typ zu kämpfen hat, macht mich fertig", "Von den tausend Mädels, die ich attraktiv fand, fand mich keine einzige auch attraktiv." "Frauen kriegen am Tag mehr als 40 Rückmeldungen. Ich kriege kaum Nachrichten, auch wenn ich mich richtig anstrenge."Unzählige Jungs, die fragen: Habt ihr auch so ein mieses Selbstwertgefühl, seit ihr bei Tinder seid?

Nun, Tinder wird von 62 Prozent Männern und von 38 Prozent Frauen genutzt. Warum Frauen also mehr Matches bekommen, ist halt irgendwie auch Mathematik. Genau wegen dieser Berechenbarkeit ist die App so beliebt. Denn durch geringen Aufwand verspricht sie die größtmögliche Effizienz bei der Suche nach Sex, Beziehung, Nicht-Beziehung oder was auch immer.

Und sie funktioniert dabei auf ganz kaltschnäuzige Weise. Ausschließlich über die Oberfläche. Tinder ist wie ein digitales Schaufenster, das die Ware im bestmöglichen Licht präsentieren soll. Ein paar pseudo-philosophische Sätze auf Englisch. Ein Selfie mit Tiger in Thailand. Oder eins beim Pumpen im Studio. Alles in der Hoffnung, dass das Schaufenster irgendwann schon einladend genug aussieht.

Bye-bye Selbstwert

Aber wer dauerhaft nur auf Oberfläche setzt, wird früh genug merken, dass das etwas mit einem macht. Und zwar nichts Gutes. Denn wem sich die eigene Attraktivität nur noch im Spiegel der Matches zeigt, der wird gekränkt, wenn die Anerkennung ausbleibt. Das zerstört das Selbstwertgefühl. Und genau das merken gerade Männer besonders stark.

Auf der Jahrestagung der American Psychological Association wurde in diesem Jahr eine Studie vorgestellt, die eigentlich zum Ziel hatte, zu untersuchen, welchen Einfluss Tinder auf das Selbstwertgefühl von Frauen hat. Dazu wurden 1.044 Frauen und 273 Männer, die meisten von ihnen Studierende, befragt. Es ging um Körperwahrnehmung, Objektivierung, Zufriedenheit. Zehn Prozent der Befragten waren Tinder-Nutzer*innen.

Sie alle hatten im Vergleich zum Rest der Befragten weniger Selbstwertgefühl, ein schlechteres Körperbild und fühlten sich nicht mehr als Person wahrgenommen. Den Männern ging es dabei noch deutlich schlechter als den Frauen: "Obwohl Vorgaben von Körperbildern hauptsächlich auf Frauen gemünzt sind, legen unsere Ergebnisse nahe, dass Männer davon genauso negativ betroffen sind, wenn sie dieses soziale Netzwerk nutzen", erklärte Jessica Strübel, eine der Autorinnen der Studie.

Sicher, diese Ergebnisse sagen für sich genommen noch nichts darüber aus, ob die App dieses schlechte Selbstwertgefühl hervorbringt oder nicht einfach User*innen mit niedrigem Selbstwert anzieht. Aber die schiere Masse an Diskussionen im Netz zu genau dem Thema spricht dafür.

Tinder essen Ego auf

Tinder scheint die Dementor-App zu sein. Sie saugt Selbstwert auf. Denn in der gnadenlosen Logik der Oberfläche macht sie ihre User*innen zu reinen Objekten. Und Objekte werden auf Dauer ohnmächtig. Wer nur auf die Oberfläche setzt, verliert. Denn wer nicht permanent gematched wird, hat ein Abo der Zurückweisung.

Für Männer ist diese Erkenntnis besonders grausam. Denn sie ist neu. Während Frauen wissen, wie es ist, an jedem Zeitungsstand mit immer noch attraktiveren Körperbildern belästigt, in sozialen Netzwerken ständig ungefragt beurteilt zu werden und das Sei-bloß-schön von Kindesbeinen an verinnerlicht zu haben, ist das für Männer in dieser Gnadenlosigkeit eine neue Erfahrung.

Frauen mussten schon immer vor allem gut aussehen, wenn sie beim Daten Erfolg haben wollten. Männer konnten traditionell auch mit anderen Eigenschaften punkten. Doch Tinder macht uns ein Stückchen gleicher. Männer dürfen jetzt auch mal ein bisschen Frau sein. Und merken dabei, dass Oberfläche ganz schön gnadenlos ist. Da kann das Ego schon mal leiden.

Doch wer nun als Frau "eine Runde Mitleid!" rufen möchte, der sei die Häme zwar kurz gegönnt, aber sollte sich dann schon auch fragen, ob wir uns Gleichberechtigung wirklich so vorgestellt haben.