Sarah hat Angst. Angst davor, dass ein Gesetzesentwurf, der bald im Bundestag besprochen wird, sie aus ihrem gewohnten Umfeld herausreißen und ins Pflegeheim bringen könnte. Dabei führt Sarah heute eigentlich ein selbstbestimmtes Leben. Ein Leben, in dem sich nicht alles um ihre Behinderung dreht.

Die 23-Jährige lebt in ihrer eigenen Wohnung in der Nähe von Hamburg, studiert im dritten Semester Kunst und ist leidenschaftliche Malerin. Sie schreibt gerne Geschichten, liebt griechisches Essen und komponiert mit einem Musikprogramm. Damit sie all diesen Interessen problemlos nachgehen kann, wird Sarah in ihrer Wohnung von Pflegefachkräften betreut. Sie muss rund um die Uhr beatmet werden. Mit drei Jahren hatte Sarah einen schweren Autounfall, bei dem sie sich das Genick brach. Sie überlebte, ist seitdem aber querschnittsgelähmt und auf das Beatmungsgerät angewiesen. Der etwa 20 Zentimeter lange Schlauch, eine sogenannte Gänsegurgel, ist ihr ständiger Begleiter. "Dank meiner Pflegekräfte kann ich trotzdem ein weitgehend normales Leben führen – und vor allem ein selbstbestimmtes", sagt die 23-jährige Studentin.

Bis zum Spätsommer – genauer: bis zum 17. August 2019 – war alles gut. Doch seitdem kreisen ihre Gedanken nur noch um eine Frage: Muss ich bald ins Heim? An diesem Tag stieß Sarah im Internet auf einen neuen Gesetzesentwurf des Bundesgesundheitsministeriums. Zunächst konnte sie nicht glauben, was sie dort las. "Ich hielt es für Fake News", erinnert sie sich. Im Beitrag ging es um das Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz, kurz RISG. Das Gesetz sollte die Qualität und den Zugang zu außerklinischer Versorgung verbessern, hieß es im Entwurf. Viele Betroffene und Mitarbeiter*innen ambulanter Pflegedienste waren empört. Denn das RISG hatte auch ein anderes Ziel: Kosten zu senken. Und weil die ambulante Intensivpflege teurer ist als die stationäre in einem Pflegeheim oder einer Intensivpflege-WG, sollte die Pflege im eigenen Zuhause in Zukunft nur noch in Ausnahmefällen möglich sein. Mit drei Jahren Bestandsschutz für alle, die bereits zu Hause versorgt werden. Es brach mit dem bisher geltenden Grundsatz "ambulant vor stationär".

Sorge und Kritik am neuen Gesetz

Ambulante Pflegedienste meldeten sich zu Wort und kritisierten genau diese Passage des Gesetzentwurfs. Betroffenenvereine starteten eine Petition, die bis heute mehr als 180.000 Menschen unterschrieben. Selbst die AOK-Bundesstelle und die Kassenärztliche Bundesvereinigung forderten eine Konkretisierung der Bedingungen für eine weiterhin ambulante Versorgung – um sogenannte Zwangshospitalisierungen zu vermeiden. Das war der Moment, in dem auch Sarah hellhörig wurde. Und in dem sie beschloss, etwas zu tun. Die Studentin war politisch immer interessiert, aber bisher nie aktiv. Sie gründete eine Facebook-Gruppe mit dem Namen Freiheit für die Gänsegurgel, die mittlerweile mehr als 900 Mitglieder zählt. Kurze Zeit später setzte sie einen gleichnamigen Twitter-Account auf. Seit sieben Monaten ruft sie jeden Sonntag zu einem einstündigen "Twittersturm" gegen das Gesetz auf, unter dem Hashtag #NoIPReG.

Die ersten Proteste und Kritik der Fachverbände waren letztendlich erfolgreich, das RISG wurde abgeändert und in Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz umbenannt – kurz IPReG. Der Vorrang der stationären Pflege wurde abgeschwächt. Wünsche der Versicherten zum Leistungsort sollten stärker berücksichtigt werden. Und für all diejenigen, die wie Sarah schon längst zu Hause versorgt werden, sollte ein unbefristeter Bestandsschutz gelten. Aber: Der Gesetzentwurf stellt die Versorgung in den eigenen vier Wänden unter einen Mehrkostenvorbehalt und schlägt eine jährliche Angemessenheitsprüfung vor, nach der am Ende der Kostenträger entscheidet, wo die Versorgung stattfindet. Sarah weiß: Bei einer solchen Prüfung könnte sie, wie viele andere Betroffene auch, durchfallen. Sie protestierten also weiter. Bis im Februar ein neuer Entwurf kam.

Tatsächlich und dauerhaft – diese Begriffe sind juristisch nicht klar definiert.
Oliver Stegemann, Rechtsanwalt

Plötzlich ist der Bestandsschutz weg. Stattdessen steht dort: "Wünschen der Versicherten, die sich auf den Ort der Leistung nach Satz 1 richten, ist zu entsprechen, soweit die medizinische und pflegerische Versorgung an diesem Ort tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann." Es ist dieser eine Satz, der vielen Betroffenen bis heute Sorgen bereitet. Tatsächlich und dauerhaft – was bedeutet das? Dr. Oliver Stegemann, Syndikusrechtsanwalt des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste, ist sehr skeptisch. "Diese zwei Begriffe sind juristisch nicht klar definiert", bemerkt er. Anders gesagt: Was das für Betroffene in Zukunft heißen könnte, weiß niemand genau. "Tatsächlich" und "dauerhaft" erzeugen seitdem Unsicherheit. Anwalt Stegemann ist irritiert über die Formulierung, denn: "Auch jede andere Krankenkassenleistung muss tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden können. Trotzdem wird das an anderer Stelle nicht im Gesetz ausdrücklich geregelt." Am 12. Februar wurde der Gesetzesentwurf in der jetzigen Form vom Kabinett beschlossen, Mitte Mai wird er im Bundesrat besprochen.

Wir leben in einem Pflegenotstand, es gibt keine Garantie für eine dauerhafte Sicherstellung meiner Versorgung.
Sarah George, Kunststudentin

Für Sarah steht fest: Es ist ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention und ihr Recht auf Freizügigkeit. Tatsächliche und dauerhafte Versorgung? Da kann sie nur bitter lachen: "Wir leben in einem Pflegenotstand, es gibt keine Garantie für eine dauerhafte Sicherstellung meiner Versorgung." Da ein Ziel des IPReG auch die Bündelung von Pflegekräften in stationären Einrichtungen ist, hat die 23-Jährige die Sorge, dass bald noch weniger ambulante Kräfte als bisher zur Verfügung stehen. Heißt das für sie, dass sie ins Heim muss? Auch andere fürchten die Voraussetzungen, die sie in einer solchen stationären Einrichtung antreffen könnten.

So zum Beispiel Tim Melkert. Der 31-Jährige ist Doktorand an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, auch er muss dauerbeatmet werden. Und auch er kämpft gegen das IPReG. Seine Sorgen, dass er selbst per Gesetz ins Heim muss, sind mit dem neuesten Entwurf kleiner geworden. Wenn es aber trotzdem soweit käme, bangt er um seine Gesundheit: "Durch Sekret kann es vorkommen, dass ich sehr akut abgesaugt werden muss. Durch mangelnde Vorerfahrung einer persönlich eingearbeiteten Nicht-Fachkraft kann bei der Vorbereitung dieser Maßnahme eine Verzögerung von höchstens 30 Sekunden entstehen, welche hinnehmbar ist", schreibt er im Februar in einer Stellungnahme an den Deutschen Bundestag. "Eine Verzögerung von bis zu zehn Minuten, weil die Fachkraft in einer vollstationären Einrichtung gerade mit einem anderen Patienten beschäftigt war, kann hingegen lebensbedrohlich für uns sein."

Aktuell können Menschen wie Tim und Sarah ihre Assistent*innen selbst auswählen, einarbeiten und auch entlassen. Vieles an dem IPReG lässt Betroffene dahingehend mit Unsicherheiten zurück. Können sie in Zukunft genauso selbstbestimmt wie jetzt über ihre Lebens- und Pflegesituation entscheiden? Oder übernehmen das in Zukunft andere?

Sarah ist müde – aufgeben will sie aber nicht

Sarah hat zu den sechs Pfleger*innen, die sich schon seit Langem um die Kunststudentin kümmern, ein freundschaftliches bis familiäres Verhältnis. Abends sitzen sie oft zusammen und reden über Gott und die Welt, an anderen Tagen backen sie gemeinsam oder gehen spazieren. Wenn das Wetter gut ist, gibt es Eis auf dem Balkon. "Und wenn ich male, stehen sie oft stundenlang neben mir und helfen mir, die Farben zu mischen und die Leinwand zu verrücken", erzählt die 23-Jährige. Sobald die Corona-Krise es wieder zulässt, wollten sie gemeinsam zu Konzerten gehen, zu Nightwish zum Beispiel, Sarahs Lieblingsband aus Finnland.

Dass ihre Pfleger*innen bis dahin vielleicht nicht mehr für sie da sein können, besorgt die junge Frau. Nach eigenen Angaben habe sich ihr psychischer Zustand verschlechtert, seit sie gegen das IPReG kämpft. Auch die Selbstbestimmung und die Nähe zu ihren Freund*innen ist der Studentin viel wert. Ihre Freund*innen, sagt sie, seien für sie zur Familie geworden. Mit ihnen Zeit zu verbringen und Dinge zu unternehmen, sei eine Herzensangelegenheit. Allein im letzten Monat, so schätzt Sarah, hat sie 200 Stunden im Kampf für ihre Freiheit verbracht. Sie ist müde. Aufgeben will sie aber nicht.