Die türkisch-deutschen Beziehungen stehen an einem Tiefpunkt. Präsident Erdoğan provoziert die Eskalation. Dahinter steckt politisches Kalkül.

Dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan scheint für den Ausbau seiner Macht jedes Mittel recht zu sein. In Kauf nimmt er dabei auch, das türkisch-deutsche Verhältnis langfristig zu schädigen. Die Beziehungen der beiden Länder befinden sich an einem Tiefpunkt. Wenn er nach Deutschland kommen wolle und man ihn abweise, werde er die "Welt aufmischen", polterte Erdogan zuletzt. Sein Vorwurf, dass Deutschland heutzutage immer noch mit den Methoden der Nazis arbeite, rief Empörung hervor. Dabei ist der türkische Staatspräsident selbst ein Despot erster Klasse, der die Eskalation sucht und seinem Land gerade die Grundlage für eine demokratische Zukunft nimmt.

Die Festnahme des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel, der im Istanbuler Silivri-Gefängnis in Untersuchungshaft sitzt, ist nur ein Beispiel und deutete die diplomatische Krise zwischen den beiden Ländern bereits an. Mit seinen Nazi-Vorwürfen bezog Erdoğan sich auf die jüngsten Diskussionen um Auftritte türkischer Politiker in Deutschland. Der türkische Justizminister Bekir Bozdağ konnte vergangene Woche eine geplante Rede vor Anhängern in Gaggenau nicht abhalten, da die Stadt die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen als nicht erfüllt sah. Auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoğlu kann seine geplante Rede in Hamburg wohl nicht halten. Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi schlug bei seiner Rede in Köln aber gemäßigtere Töne an. Für Erdogan und seine Gefährten von der Regierungspartei AKP ist die Diskussion um ein Auftrittsverbot auf deutschem Boden jedoch ein handfester Skandal.

Das Prinzip Erdoğan

Dabei ist es Erdoğan, der die Eskalation sucht und geradezu zu seinem Prinzip macht, um die Gräben zwischen seinen Freunden und Gegnern weiter zu vertiefen. Denn Erdogan befindet sich mitten im Wahlkampf für das von ihm lang ersehnte Referendum über eine Verfassungsänderung am 16. April.  Die Abstimmung ist entscheidend für die Zukunft der Türkei, könnte die letzte Etappe auf dem Weg zur endgültigen Autokratie und Erdoğans Machtsicherung werden. Absolute Polarisierung der Bevölkerung ist Teil seiner Strategie. Denn das Prinzip Erdoğan definiert sich mittlerweile durch die Abwertung seiner politischen Widersacher.

Da Umfragen voraussagen, dass ihm wenige Prozentpunkte für das erhoffte Ja zum Präsidialsystem fehlen könnten, versucht Erdoğan auch die im Ausland lebenden wahlberechtigten Türken für sich zu mobilisieren. Deutschland, Österreich und die Niederlande sind Länder, in denen ein Großteil, der dort lebenden Türkeistämmigen eher konservative Ansichten vertritt. Im Falle eines engen Ergebnisses beim Referendum könnten die dortigen potenziellen Wähler für Erdoğan den Ausschlag geben.

Bereits mehrfach sprach Erdoğan in den letzten Jahren auch in Deutschland. In Berlin, Karlsruhe oder Köln – und polarisierte auch damals bereits mit seinen Äußerungen. Seine Anhänger in der Türkei und im Ausland bejubeln ihn dennoch oder gerade deswegen. Demokratie zu predigen, aber nichts davon zu verstehen, ist einer von Erdoğans Vorwürfen an Deutschland. Die eigene Doppelmoral scheint seine Anhänger dabei nicht zu stören, denn Erdoğan spricht seit Monaten von der Wiedereinführung der Todesstrafe. Dass seine Besuche nicht nur Befürworter, sondern auch Tausende seiner Gegner mobilisieren, verdeutlicht das Konfliktpotenzial in Deutschland. Auch die in Deutschland leben Türkeistämmigen sind bereits polarisiert, ähnlich wie in der Türkei. Diese Konflikte so kurz vor dem Referendum durch die diplomatische Krise nicht weiter zu verschärfen, sollte auch im Interesse von Erdoğan sein.

Welch Zufall ist es auch, dass der Film Reis (zu Deutsch: Der Anführer) gerade letzte Woche in türkischen und auch in deutschen Kinos anlief. Der Film zeichnet den Beginn Erdoğans politischer Karriere nach. Ein Streifen, der Erdoğan so inszeniert, wie er sich selbst gerne sieht – als einen von ganz unten, aus der einfachen und frommen Schicht, der es nur mit Fleiß und Einsatz für sein Volk nach ganz oben geschafft hat. Kritiker bewerten den Film und den Erscheinungszeitpunkt als Propagandamaßnahme.

Die Türkei und Deutschland – eine Hassliebe?

Wer das Verhältnis der beiden Länder zueinander kennt, weiß auch, dass es nicht immer so war. Die Resolution zum Völkermord an den Armeniern, Kritik am Vorgehen gegen die Opposition oder den Umgang mit PKK-Unterstützern in Deutschland – all dies sind Punkte, die in der jüngsten Vergangenheit bereits die Beziehungen belasteten. Viele Stimmen hierzulande fordern bereits länger einen härteren Ton gegenüber dem türkischen Machthaber.

Und dennoch: Mag das Verhältnis bei Zeiten eher einer Hassliebe gleichen, können die beiden trotzdem nicht ohne einander. Und das liegt nicht nur an den knapp drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland, sondern auch an den historisch schon immer engen Beziehungen und aktuellen politischen Interessen beider Länder. Stichwort: Flüchtlingsdeal mit der EU – denn auch Erdoğan und Bundeskanzlerin Merkel sind inzwischen fast alte Bekannte. Allein 2016 reiste die Kanzlerin drei Mal in die Türkei. Schlechte diplomatische Beziehungen sähen anders aus. Ihr Treffen mit Erdoğan im Herbst 2015 kurz vor den türkischen Parlamentswahlen brachte der Bundeskanzlerin sogar den Vorwurf ein, ihn und die AKP bei der Wahl öffentlich zu unterstützen.

Die andere Türkei

Dass Erdoğan und seine AKP eine große Anhängerschaft in der Türkei und Deutschland haben, steht außer Frage. Mitverantwortlich dafür ist der Wirtschaftsboom und Reformwille in den ersten zehn Jahren der AKP-Regierung. Doch die Türkei und vor allem die Bevölkerung hat gerade in den letzten vier Jahren turbulente politische Entwicklungen durchgemacht, die auch auch eine andere Türkei zum Vorschein gebracht haben. Die regierungskritischen Gezi-Proteste und die Oppositionspartei HDP ließen Andersdenkende hoffen. Doch innerhalb weniger Monate erlebte das Land die blutigsten Terroranschläge in seiner Geschichte, den erneut aufgeflammten Konflikt mit der PKK und einen gescheiterten Putschversuch. Der seitdem anhaltende Ausnahmezustand erleichtert dem Staatspräsidenten das Ausschalten der Opposition und Aushebeln des Rechtsstaats. Die beiden Vorsitzenden der kurdischen Oppositionspartei HDP befinden sich bereits seit Ende letzten Jahres in Haft.

Und obwohl das Wort Nein bis zum Referendum praktisch aus dem türkischen Wortschatz gestrichen ist, regt sich noch Widerstand. Am Wochenende protestierten bereits tausende Frauen mit "Nein"-Schildern gegen die Verfassungsänderung. 

Es ist wahrscheinlich, dass sich trotz der aggressiven Rhetorik und Drohungen vom Bosporus das türkisch-deutsche Verhältnis wieder entspannen werden. Zu lange sind die Türkei und Deutschland miteinander verbunden, um ihre Partnerschaft für Erdoğans Machtgelüste aufs Spiel zu setzen. Sollte Erdoğan tatsächlich noch vor dem Referendum in Deutschland auftreten, kann er sich dennoch auf den Gegenwind seiner Gegner gefasst machen. Eine Demonstration gegen ihn hierzulande kann er nämlich nicht mit Wasserwerfern und Tränengas niederschlagen lassen.