Diesen Sonntag wird in Österreich der nächste Bundeskanzler gewählt. Glaubt man den Prognosen, wird den ersten Platz die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) mit etwa 33 Prozent machen und der 31-jährige Sebastian Kurz könnte Bundeskanzler werden. Um den zweiten Platz kämpfen die Sozialdemokrat*innen (SPÖ) mit dem derzeit amtierenden Bundeskanzler Christian Kern und die ultrarechte Partei Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) mit dem Kanzlerkandidaten Heinz-Christian Strache.

Rechte Parteien und Gedanken gedeihen in Österreich seit Jahren. Nun werden sie nach fast 20 Jahren womöglich wieder mehrheitsfähig. Es gibt zahlreiche Burschenschaften im Land, die so weit am rechten Rand stehen wie nur möglich. Im Vergleich zur vergangenen Wahl im Jahr 2013 tendiert nun auch die Mehrheit der Jungwähler*innen zur ÖVP und FPÖ – also klar zu rechtskonservativer Politik.

Rechtssein und rechte Parteien zu wählen wurde in Österreich in den vergangenen Jahren zu einem politischen Statement. Wir haben einen Wiener Jugendforscher gefragt, wie das Land so weit nach rechts rücken konnte.Philipp Ikrath, 37, ist Jugendforscher und hat unter anderem "Die Hipster. Trendsetter und Neo-Spießer" geschrieben. Ikrath wurde in Wien geboren, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik und absolvierte die Fachhochschule für Marketing und Sales. Heute ist er Geschäftsleiter der T-Factory in Hamburg und Vereinsvorsitzender von jugendkulturforschung.de.

ze.tt: Für Deutschland waren 12,6 Prozent für die AfD bei der Bundestagswahl ein totaler Schock. In Österreich liegt die freiheitliche Partei zwischen 25 und 27 Prozent und hat Chancen auf das Kanzleramt. Warum erschüttert das die Österreicher*innen nicht mehr?

Philipp Ikrath: Ich glaube, Österreich hat sich daran gewöhnt, rechts zu sein. Früher war es noch so, dass die Menschen auf die Straße gegangen sind. Mittlerweile ist es zur politischen Normalität geworden, dass rechte Parteien mitspielen.
Sind die Zeiten des Protestes und eines Lichtermeeres also vorbei? 

Definitiv! Eine freiheitliche Regierungsbeteiligung erschreckt heute nur mehr sehr wenige. Die Menschen gehen nur auf die Straße, wenn Phänomene neu sind und sie noch leidenschaftlich für oder gegen etwas sind, wie damals bei der ersten ÖVP-FPÖ-Regierung. Dieser Zug ist in Österreich längst abgefahren. Man muss bedenken, dass Österreich seit Ewigkeiten von traditioneller und zeitweise auch rechter Politik regiert wurde. Darum gibt es in unserem Land auch keine große Linke. Die Menschen sind darauf bedacht, dass sich so wenig wie möglich verändert.

Was ist im Wahlkampf bisher passiert?

Wir haben einen Wahlkampf hinter uns, der von taktischen Skandalen geprägt war. Auch wenn die Zeitungen voll damit sind, sind sie den meisten Menschen egal. Sie nehmen alles mit einer gewissen Lethargie hin und haben keine Lust mehr.
Wie denken Sie, wird die Wahl am Sonntag ausgehen?

Ich denke, dass Sebastian Kurz Bundeskanzler werden wird, mit wem er regieren wird, also ob er eine Koalition oder Minderheitsregierung anstrebt, steht aber noch in den Sternen. Ein Aspekt fehlt mir derzeit in der Berichterstattung: wie Umfragewerte zustande kommen. Dabei werden zwar Menschen befragt, aber die Befragungsergebnisse werden im Anschluss gewichtet. Bei der ÖVP rechnet man derzeit einfach einen Kurz-Effekt hinzu und schlägt ein paar Prozent drauf. In Wahrheit ist das alles hochgradig spekulativ.

Können Sie erklären, warum so viele Menschen in Österreich rechte Parteien wählen?

Die Österreicher*innen nehmen den rechten Parteien eher ab, dass sie dafür sorgen, dass sich nichts ändern wird. Ich bin überzeugt, dass Themen und Inhalte in diesen Debatten und im Wahlkampf total überbewertet werden. Die modernen, jungen Wähler*innen – und nicht nur die – entscheiden nicht nach Parteiprogrammen oder Schwerpunkten, sondern treffen ihre Wahlentscheidung auf der Basis, wie Politiker*innen auftreten.Wie müssen sie auftreten, um gewählt zu werden?

In den letzten Jahren hat es die FPÖ geschafft, sich als jugendlich zu verkaufen. Jetzt hat die Partei Konkurrenz von Sebastian Kurz bekommen. Dabei geht es nicht nur um Körperliches wie Slim-Fit-Anzüge, denn die trägt der Bundeskanzler auch, sondern im Fall Sebastian Kurz darum, dass er tatsächlich jung ist. Man darf nicht unterschätzen, was das für ein großer Effekt ist. Die Menschen gehen davon aus, dass junge Politiker*innen ihre Probleme besser verstehen und lösen können. Auch wenn ich persönlich Sebastian Kurz als gar nicht jugendlich empfinde, sondern vielmehr als klassischen Politiker, beeinflusst das Alter und alles was da mitschwingt, die Wähler*innen enorm.
Die Zentrumsparteien kümmern sich recht wenig um die jungen Menschen im Land. Lassen sie die jungen Wähler*innen bewusst links liegen oder haben sie ihnen nichts zu bieten?

Ich denke sowohl als auch. Die Jungen müssen als Feigenblatt herhalten, wenn Politiker*innen auf einem Plakat gut aussehen wollen. Aber tatsächlich sind jugendtypische Anliegen in diesem Wahlkampf und in denen davor nicht vorgekommen. Auch das Auftreten der Regierungsparteien ÖVP und SPÖ war in den letzten Jahren alles andere als jugendlich. Die FPÖ hingegen hat Wähler*innen in der Großraumdiskothek angesprochen, die Grünen waren auf hippen, urbanen Märkten unterwegs. Damit haben sie bei den Jungen gepunktet.
Den Jungen wird oft vorgeworfen politikverdrossen zu sein. Sind sie es?

Die jungen Menschen sind Parteien- und Systemverdrossen, aber trotzdem grundsätzlich an Politik interessiert. Wenn tatsächlich über für sie relevante Themen diskutiert wird, sind sie sehr interessiert. Nur weil sie nicht mehr die Vita der Politiker*innen auswendig kennen, ist das für mich kein Zeichen für Politikverdrossenheit. Grundsätzlich sind die großen Parteien einfach bisher nicht jugendlich gewesen und die Jugend fühlte sich darum weder angesprochen noch personell vertreten. Darum sprechen sie jetzt auch so gut auf Sebastian Kurz an.Wie kann man sich typische rechte Wähler*innen in Österreich vorstellen?

Das ist meist ein angepasster, unauffälliger Mensch. Der sich ein ruhiges, stabiles Leben wünscht, einen soliden Beruf hat, sozial ziemlich unauffällig ist und durch das Hereinbrechen der Globalisierung und der Migration seine gewohnte Welt in Gefahr sieht und sich dementsprechend irrational verhält. Vieles, was in rechten Kreisen gemunkelt wird, ist von jeglicher Vernunft befreit und beinhaltet paranoide Ansichten. Und trotzdem darf man sich die Wähler*innen nicht in Springerstiefel und auf aggro vorstellen. Genauso wählen mittlerweile auch Jugendliche mit Migrationshintergrund die FPÖ.
Wie sollte man mit ihren Ängsten umgehen?

Ich denke, dass viele dieser Ängste unbegründet sind – und über paranoide Wahnvorstellungen zu sprechen, wäre sinnlos. Natürlich gibt es objektive Ängste, wie wenn sich schlecht ausgebildete Menschen um ihren Arbeitsplatz sorgen. Leider geht das oft nahtlos in andere Ängste über, die aber nur Verschwörungserzählungen sind. Hier muss man einen Weg finden, etwas gegen die tatsächlichen Sorgen dieser Menschen, wie zum Beispiel den Lohndruck, zu tun. Aber sich Triaden über das Weltjudentum anzuhören, das würde ich auch Politiker*innen nicht zumuten. Da sollte man eine klare Grenze ziehen. Nicht jede Angst ist berechtigt, nur weil es sie gibt.
In der Diskussion ist ja oft die Rede von den sogenannten einfachen Menschen, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Es gibt aber genauso Burschenschaften und Jugendbewegungen, bei denen sich privilegierte Studierende mit ihren rechten Ideologien zusammenschließen.

Ja, auch sie haben mit dem einfachen Mann etwas gemeinsam: nämlich die Angst, dass sich etwas verändert. Sie wollen nicht, dass sich ihre Welt irgendwie bewegt oder jemand in sie eindringt. Während die einen unter wirtschaftlichem Druck stehen, will der weltanschaulich konservative Burschenschafter mit Jurastudium das Land vor dem Islam beschützen. Beide Menschen fühlen ihre Kultur in Gefahr. Bei der Identitären Bewegung beispielsweise steckt heimlicher Groll dahinter und überhaupt kein fachlicher Inhalt mehr.
Manche meinen, dass es gut ist, wenn eine rechtspopulistische Partei regiert und Verantwortung übernehmen muss, weil sie sich dann selbst entlarvt.

Mir macht das wirklich Sorgen. Es kann nämlich auch sein, dass sich durch stärkere Grenzen und eine Obergrenze die rechte Meinung noch mehr im Land festigt. Wenn den Armen noch ein paar Euro mehr genommen werden und man es den anderen gibt. Momentan ist die Stimmung so: Wenn die Maßnahmen Minderheiten treffen, hat kaum jemand ein Problem damit.
Also bewegt sich Österreich auf einen asozialen Staat zu?

Ja, vielleicht sind wir auch nie sozial gewesen (lacht). Nein, in Wahrheit ist der soziale Gedanke natürlich ein Privileg von Menschen wie uns, denen es gut geht. Auch die Deutschen müssen sich beispielsweise an die Nase fassen, wie weit ihr Idealismus verankert ist. Auch dort ist es common sense geworden, dass man nicht alle Geflüchteten aufnehmen kann. Die Frage nach sozialer und asozialer Politik kann sich mittlerweile jedes europäische Land stellen.
Apropos Deutschland, gibt es große politische Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich?

Der größte Unterschied zwischen Deutschland und Österreich ist, dass in Deutschland der Tonfall in der Debatte sehr viel nüchterner und sachlicher ist, wenn man die AfD mal außen vor lässt. In Österreich geht es viel stärker um Emotionen. Alle Parteien versuchen, sie zu mobilisieren. In Deutschland hingegen wollen gerade die großen Parteien die Emotionen so niedrig wie möglich halten.
Warum ist das so?

Das ist schwer zu erklären. In Italien hauen sie sich im Parlament manchmal auf den Schädel. Das sind einfach unterschiedliche politische Kulturen und Persönlichkeiten.Könnte man den politischen Diskurs in Österreich versachlichen?

Ich glaube, dass es sehr schwierig ist, wenn man diese Art des Politikmachens einmal gewöhnt ist. Es wird ständig gefordert, dass die politische Kultur versachlicht werden muss. Diejenigen, die es tatsächlich versuchen, gehen in der allgemeinen Hysterie einfach unter – wie zum Beispiel jetzt gerade die Grünen.

Wenn es die AfD aus der Ecke der krisengeschüttelten Altherrenpartei herausschafft, könnte sie viel mehr Menschen erreichen als nur sächsische Nazis."

Kann man die AfD und FPÖ grundsätzlich vergleichen?

Inhaltlich sehe ich keine Unterschiede. Beide Parteien setzen auf wirtschaftsliberale Themen und Antimigration.
Hat die AfD das Potenzial, so groß zu werden wie die FPÖ?

Ja! Da bin ich mir zu 100 Prozent sicher. Wenn es die Partei aus der Ecke der krisengeschüttelten Altherrenpartei herausschafft, könnten sie viel mehr Menschen erreichen als nur sächsische Nazis.