"Sie" oder "Du" – was ist wann angemessen?

Manchmal ist es allerdings gar nicht so leicht, zu entscheiden, ob man eine Person siezen oder duzen soll. Denn mit zunehmendem Alter ist es schwerer festzustellen, wer jetzt älter ist. Außerdem sind auch jüngere oft alt genug, gesiezt zu werden. Der Duden empfiehlt, auf die höfliche Anrede "Sie" zurückzugreifen, wenn die Sache nicht eindeutig ist. Der Knigge schreibt jeder volljährigen Person ein Recht auf "Sie" zu. Und das gegenseitige Duzen darf nur von dem*der Ranghöheren angeboten werden. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts mussten Kinder sogar ihre Eltern siezen. Alles andere zeugte von schlechten Manieren.

Doch zum Glück werden die Momente, in denen wir uns so umständlich formell ausdrücken und siezen müssen, immer seltener. Mittlerweile ist das "Du" nicht mehr nur unter Freund*innen oder der Familie gängig. Sogar Unternehmen haben heute vermehrt eine Du-Kultur. Und das nicht nur unter Kolleg*innen, oft wird sogar auch der*die Chef*in geduzt.

Doch seit wann und warum verwenden wir überhaupt die Anrede "Sie"? Können wir uns nicht einfach dem Englischen anpassen und alle duzen? Und was ist der Grund, aus dem wir uns immer mehr vom "Sie" abwenden?

Im 16. Jahrhundert wurde "geihrzt" anstatt gesiezt

Zunächst ein sprachhistorischer Exkurs: Schon seit ungefähr 200 Jahren unterscheidet man im deutschsprachigen Raum zwischen dem familiären "Du" und dem höflichen "Sie" in der Anrede. Doch natürlich gibt es sprachliche Höflichkeit schon viel länger. Der Linguist Horst J. Simon hat den Wandel in seinem Aufsatz, Wie Höflichkeit die Person(en) verwirrt – und wie’s die Grammatik wieder ordnet, erklärt. So redeten sich die Leute im 16. Jahrhundert noch mit "Ihr" an, also der zweiten Person Plural, anstatt in der zweiten Person Singular wie bei "Du". Damals fragte man also theoretisch nicht "Geht es Ihnen gut?", sondern "Hoheit, geht es Euch gut?"

Auf diese Weise wird jemand nicht direkt angesprochen, sondern wie mehrere Personen behandelt. Es entsteht eine Distanz. Es wirkt, als sei die angesprochene Person Teil einer Gruppe. Genau nach diesem Prinzip funktioniert Höflichkeit: Laut Simon soll sie die Vorzüge eines Menschen in Erscheinung bringen und ihn schonen. Mit "Ihr" wird verschleiert, wer eigentlich gemeint ist, während "Du" sehr direkt und eindeutig ist. Als würde man mit dem Finger auf jemanden zeigen. Beim Sprechen ist man also umso höflicher, je weniger direkt man möglicherweise unangenehme Sachverhalte anspricht. Die Anrede "Ihr" ist übrigens heute noch die höfliche Form im Französischen – als Gegenstück zum deutschen "Sie".

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Von "möget Ihr?" zu "möge Er?"

Doch mit der Zeit sei die Anrede "Ihr" immer mehr verallgemeinert worden, schreibt Simon. Nach einigen Jahren war sie nicht mehr nur für Menschen höheren Standes bestimmt, sondern auch unter Studierenden geläufig. Ihre Höflichkeit wurde also quasi abgenutzt. Deshalb musste eine neue Art her, Respekt auszudrücken. Hinzu kam, dass neben "Ihr" neue Bezeichnungen wie "der Herr" oder "gnädiges Fräulein" entstanden waren. Diese bildeten den Übergang zu einer neuen Anrede. Im 17. Jahrhundert setzte sich daher das Wörtchen "Er" durch. Nun war die Anrede wieder im Singular, dafür aber eine Person weiter entfernt von der vorherigen. Statt der zweiten wurde nun die dritte Person verwendet. Hätte man damals einen geschätzten Freund fragen wollen, wie es ihm gehe, hätte es geheißen: "Wie geht es ihm?" - Diese Anrede wirkt, als sei jemand abwesend. Man tritt also auch hier niemandem zu nahe.

Allerdings verschwammen im Laufe der Zeit Singular und Plural immer mehr. Zum Beispiel dadurch, dass sich auch "Euer Gnaden" als höfliche Anrede für eine männliche Person durchsetzte. "Gnaden" bezeichnet eigentlich eine Mehrzahl, meint aber in diesem Kontext nur einen einzigen. So entstand auch die heutige Anrede "Sie" – eigentlich dritte Person Plural, aber singularisch verwendet. Es ist eine Kombination aus Plural wie "Ihr" und der dritten Person wie "Er". Doch "Sie" unterscheidet sich von der dritten Person Plural "sie", das eine Gruppe bezeichnet: Ersterem haftet eine neue grammatische Kategorie an, nämlich die des Respekts. Diese Bedeutung wurde in das Wort aufgenommen.

Wer siezt, ist spießig und behandelt Menschen nicht gleich

Wieso ist die Anrede "Sie" bis in die heutige Zeit geblieben? Vielleicht, weil es Tradition geworden ist. Sprache ändert sich nicht von heute auf morgen. Fest aber steht: Der Wandel geht weiter. Die Welt ist heute nicht mehr so sehr ständisch oder hierarchisch geprägt. Heute sind alle und alles miteinander vernetzt. Die Unterschiede zwischen den Menschen werden weniger, jede*r ist gleich. Das führt dazu, dass wir eine höfliche Anrede immer weniger brauchen und häufiger auf das "Du" zurückgreifen. Wer Menschen gleich behandeln will, muss dies auch in der Anrede tun.

Psycholog*innen führen den Wandel ebenfalls auf diese Entwicklungen zurück. Aus der früheren Dominanz von Adligen ist ein liberales Miteinander geworden. Individualität löst Hierarchien ab. Daher stellen wir wieder den Menschen mit seinen Fähigkeiten in den Vordergrund. Die Grenze zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum ist nicht mehr so klar wie früher. Allein über das Smartphone vermischen sich Arbeit und Freizeit. Über unsere Handys erzählen wir öffentlich private Dinge und verwenden das Gerät auch im Büro. Der zwischenmenschliche Umgang wird persönlicher, familiärer, lockerer. Künstliche Distanz ist nicht mehr nötig. Daher müssen wir auch nicht mehr überlegen, was die richtige Anredeform ist. Wir wählen einfach für alle die gleiche. Und wer noch siezt, geht nicht mit der Zeit und ignoriert diesen Wandel. Wirklich?

Manchmal ist Höflichkeit noch wichtig

Noch ist es nicht ganz so weit. Und auch, wenn wir es nicht mehr müssen – manchmal ist die höfliche Anrede "Sie" dennoch angebracht. Sie ist sogar wünschenswert. Zum Beispiel, wenn Journalist*innen mit Politiker*innen reden. Denn Medien, eine Art vierte Gewalt im Staat, sollten nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich mit Politiker*innen verbünden. Auch bietet sich das Siezen in Situationen an, in denen wir Wertschätzung zeigen wollen oder eine Distanz bewahren wollen.