Kürzlich wurde am Kammergericht Berlin ein wegweisendes Urteil gefällt: Ein heute 38-jähriger Bundespolizist wurde wegen eines sexuellen Übergriffs zu einer Bewährungsstrafe und Schmerzensgeld verurteilt. Er hatte beim Sex mit einer damals 20-jährigen Polizeianwärterin heimlich das Kondom abgestreift. Das Gericht hat damit sogenanntes Stealthing für strafbar erklärt, in diesem Fall jedoch nicht als Vergewaltigung bewertet, da es sich um "keinen besonders schweren Fall" gehandelt habe. Im Einzelfall könne Stealthing künftig aber auch als Vergewaltigung bestraft werden, so das Urteil.

Streift der Sexualpartner heimlich ohne Wissen seiner Partnerin das Kondom ab, entmündigt er sie in diesem Moment und darüber hinaus.

Die Reaktionen kommen prompt, oft von männlicher Seite: Es hätten ja beide dem Sex an sich zugestimmt. Sei es da nicht nur eine Lappalie, ob nun mit Kondom oder nicht? Vielmehr gehe es doch um praktische Gefahren, wie die Angst vor Geschlechtskrankheiten oder die Möglichkeit einer ungewollten Schwangerschaft.

Auch wenn das wichtige Bedenken sind, sollten wir uns die Machtdynamik genauer ansehen:

Streift der Sexualpartner heimlich ohne Wissen seiner Partnerin das Kondom ab, entmündigt er sie in diesem Moment und darüber hinaus. Trotz der anfänglichen gemeinsamen Übereinkunft, Sex zu haben, stellt der Mann damit seine Bedürfnisse nach mehr Intensität über ihre Sicherheitsbedenken, schwanger zu werden oder sich möglicherweise mit einer Geschlechtskrankheit anzustecken. Kommuniziert wird: "Meine Entscheidung ist mehr wert als deine."

Die Absprache galt nicht für Sex ohne Kondom

In eine Situation der Lust und Intimität tritt mit einer Handbewegung Verrat und Gewalt, mit möglichen erheblichen Konsequenzen. Es ist eine Demonstration seiner Macht, sie wird in dieser Dynamik degradiert. Die dahinterliegende Anspruchshaltung: Er hat das Recht auf die Entscheidung, ob ein Kondom verwendet wird – sie nicht.

"Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt", macht sich strafbar. So heißt es in § 177 im Strafgesetzbuch. Der Konsens war zwar im genannten Fall vorhanden, aber nur unter der Voraussetzung, dass ein Kondom verwendet wird. Die einvernehmliche Absprache galt nicht für Sex ohne Kondom.

Es ist ein Mythos, dass Frauen Nein sagen, aber Ja meinen.

Wohlwissentlich und um diese Diskussion zu umgehen, wird das Kondom beim Stealthing heimlich abgestreift. Das ist kein konsensueller Sex mehr, das ist also eine Vergewaltigung und verletzt zutiefst das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Die dahinterliegenden Machtverhältnisse, dass eine Frau zum Objekt wird, sind beim Stealthing und bei einer Vergewaltigung die gleichen, die psychischen Folgen für das Opfer sind ebenso schlimm.

Ich kenne viele Frauen in meinem Umfeld, denen es so ergangen ist, inklusive mir selbst. Es fallen dann gerne Sätze wie: "Warum habe ich nicht besser aufgepasst?" oder "Wo habe ich den Moment verpasst, die Frage mit dem Kondom wirklich unerschütterlich zu klären?"

Verärgert werden die Kosten für die Pille Danach und einen HIV-Test bezahlt, aber das Unbehagen bleibt. Der Verrat auch.

Wenn Frauen Nein sagen, meinen sie Nein

Die Anspruchshaltung vieler Männer, insbesondere in Bezug auf Sex, wird uns jeden Tag vorgelebt – in Filmen, Medien und Büchern. Es ist eine Mär, dass die Frau doch eigentlich wolle und sich nur ziere. Es ist ein Mythos, dass Frauen Nein sagen, aber Ja meinen.

Spätestens durch die #MeToo-Bewegung hat sich in den vergangenen Jahren schon einiges in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion getan. Das Sexualstrafrecht wurde reformiert, ein Nein heißt nun Nein. Die gesellschaftlichen Anspruchshaltungen und Rollenbilder, wie Männer und Frauen vermeintlich zu sein haben, sind aber immer noch fest in den Köpfen vieler Menschen verankert. Und so halten sich Argumentationslinien, die sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen immer wieder verharmlosen. Selbst Bekannte und Freund*innen suchen die Schuld bei der Frau, wenn sie fragen: "Das musst du doch gemerkt haben?"

Davon profitieren vor allem die Täter. So geben wir ihnen fälschlicherweise zu verstehen, die Tat sei wirklich nicht so schlimm gewesen. Dabei wäre es an der Zeit, dass wir unseren Fokus und unser Mitgefühl den Betroffenen widmen. Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir geben damit den Betroffenen die Menschlichkeit zurück. Und Täter müssen endlich die Konsequenzen für ihr Handeln tragen.

Wenn wir als Einzelne und als Gesellschaft stattdessen alte Muster verteidigen, verteidigen wir eine Kultur, in der die Bedürfnisse des Täters über denen der Betroffenen stehen. Solange wir diese Taten kleinreden, verteidigen wir eine Kultur der Ungleichheit der sexuellen Selbstbestimmung.