Bereits im April kam mit ME! die erste Singleauskopplung von Taylor Swifts neuem Album Lover in die Läden. Schon die erste Szene des dazugehörigen Videos macht klar: Die dunkle, neblige Ära der Schlangen, der Schuldzuweisung und Anklage, die das vorherige Album Reputation mit sich brachte, ist vorbei.

Stattdessen explodiert eine Schlange in Tausende Schmetterlinge und eröffnet so eine neue era, wie Fans die Alben und das zugehörige Spektakel drumherum nennen, voller Regenbögen, Pastellfarben, Pride, Feminismus und Selbstliebe. Und wenn wir 2019 irgendetwas brauchen, dann das.

Bunt, politisch, queer

Swifts siebtes Album ist ein Stück Kunst, das zeigt, dass auch die radiotauglichste Popmusik mit einer klaren politischen Aussage verbunden werden kann. Schon in den Wochen vor dem Release des Albums machte sich Swift für LGBTIQ-Rechte stark. So startete sie eine Petition, die den Equality Act, ein Gesetz für Gleichberechtigung unabhängig von Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung, vor den Senat bringen sollte. Inzwischen wurde die Petition fast 500.000-mal unterschrieben. Zu den Unterstützer*innen gehören auch die demokratischen US-Präsidentschaftkandidierenden Elizabeth Warren und Cory Booker.

Passend zum Pride Month veröffentlichte sie am 14. Juni außerdem das Musikvideo zum Song You Need To Calm Down (YNDTC). Ausgerechnet an Donald Trumps Geburtstag erschien damit ein Video, das nur so strotzte vor queeren Gastauftritten: RuPaul und die Dragqueens aus RuPauls Drag Race, Moderatorin Ellen DeGeneres, Sänger Adam Lambert, Schauspielerin Laverne Cox (Orange Is The New Black), die Fab5 aus Queer Eye, Jesse Tyler Ferguson (Modern Family), der im Video von Sängerin Ciara mit seinem real life-Ehemann Justin Mikita vermählt wird, und viele weitere Cameos sorgten für genreübergreifende Promo.

Cause shade never made anybody less gay
Taylor Swift

Schnell wurde Swift Pinkwashing vorgeworfen. Klar, 2019 versuchten viele Marken und Firmen sich mit einem Regenbogen als vermeintliche*r Ally zu stilisieren. Dabei ging häufig unter, dass Swift bereits in früheren Songs ihren Support zeigte. Bereits 2014 feierte sie beispielsweise die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe im Bundesstaat New York mit der Zeile "And you can want who you want, boys and boys and girls and girls" im Song Welcome to New York.In einem Interview erzählt sie, warum ihr das klare Bekenntnis zur LGBTIQ-Community so wichtig ist: So habe ihr guter Freund Todrick Hall sie gefragt, was es für sie bedeuten würde, sollte sich ihr Sohn outen. "Wenn mein Sohn schwul wäre, wäre er schwul", habe sie geantwortet. Die Frage habe Swift dennoch überrascht – und auf die Idee gebracht, mit ihrem Video ein Statement zu setzen. Todrick Hall, Sänger, Choreograf, YouTuber und Tänzer, war außerdem als Co-Producer des YNTCD-Videos mitverantwortlich für die Gestaltung des Minifilms.

Aber nicht nur Pride ist Thema in You Need To Calm Down. Die 29-Jährige besingt auch Solidarität unter Frauen: "And we see you over there on the internet / comparing all the girls who are killing it". Damit kritisiert sie den ständigen Konkurrenzkampf, der von vielen Zeitschriften und Promiseiten zwischen Künstlerinnen ausgerufen und befeuert wird. Wer trägt das bessere Outfit? Wer hat die schönere Frisur? Und ist diese Newcomerin etwa die neue Adele? Glaubt man dem Text des Songs, reicht es Swift damit. Und um zu demonstrieren, dass sie es ernst meint, versöhnt sie sich im Video öffentlichkeitswirksam mit ihrer jahrelangen Erzfeindin Katy Perry.

Harsche Kritik an Hollywoods Machtzentren

Einen ganz anderen Ansatz wählt Taylor Swift für den Song The Man. Darin analysiert sie, wie ihre Karriere ausgesehen hätte, wäre sie ein Mann. Im Begleittext zum Song auf Spotify betont sie, dass es ihr um die unterschiedliche Wahrnehmung von Entscheidungen geht. In etwas über drei Minuten arbeitet sie so ziemlich jede größere Diskussion ab, die in den letzten Jahren geführt wurde: Da ist der Klassiker, dass sie sich einfach nur die sprichwörtlichen Hörner abgestoßen hätte, anstatt öffentlichem Slut Shaming ausgesetzt zu sein; dass sie als cool und komplex wahrgenommen würde, statt als anstrengend und zickig.

Und weil Taylor Swift nun mal Taylor Swift ist, die mächtigste Frau im Musikbusiness, lässt sie es sich auch nicht nehmen, mit Leonardo DiCaprio einen der erfolgreichsten Schauspieler Hollywoods outzucallen. Der ist dafür bekannt, ständig neue Freundinnen zu haben. Während er inzwischen 44 Jahre alt ist, sind die Frauen an seiner Seite nie älter als 25. Daran stören sich in der breiten Öffentlichkeit überraschend wenig Menschen. Der Gegensatz zu Swift, die bereits mit Anfang 20 als männerverschleißende Verführerin galt, weil sie das Datingleben einer Anfang-20-Jährigen führte, wird an seinem Beispiel besonders deutlich.

I'm so sick of running as fast as I can wondering if I'd get there quicker if I was a man
Taylor Swift

Swift bezieht sich auch auf die Frage, ob man die Kunst von dem*der Künstler*in trennen kann. Für viele Frauen reicht ein kleiner Fehltritt, um keine Chance mehr im Business zu haben. Bei vielen Männern scheinen die roten Linien anders gezogen zu werden: Chris Brown, der vor einigen Jahren seine damalige Freundin Rihanna krankenhausreif schlug, macht immer noch erfolgreich Musik. Quentin Tarantino, der versuchte, die Vorwürfe an seinen Produzenten Harvey Weinstein kleinzureden, wird bereits für seinen neuen Film gefeiert.

"What I was wearing, if I was rude could all be separated from my good ideas and power moves", singt Swift und spricht damit vielen Frauen aus der Seele. Es ist kein Geheimnis, dass die Kunst von Frauen meist in direktem Zusammenhang zur Künstlerin interpretiert wird, während die Kunst von Männern losgelöst von der Person betrachtet wird. Jeder falsche Schritt hat Auswirkungen darauf, wie ihr Schaffen wahrgenommen und bewertet wird.

Einen kleinen Seitenhieb in Richtung #metoo-Kritiker*innen gibt es in dem Song noch obendrauf: "When everyone believes you, what's that like?" Damit solidarisiert sich Swift mit allen Frauen, denen ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen nicht geglaubt werden oder denen vorgeworfen wird, sich nicht früher gemeldet zu haben.

Schon bevor die #metoo-Bewegung in den USA stärker wurde, wurde ein Vorfall publik, bei dem ein Radiomoderator ihr bei einem Fototermin unter den Rock gefasst hatte. Nachdem dieser seinen Job verloren hatte, verklagte er Swift auf Schadensersatz. Er verlor, sie verklagte ihn wiederum wegen sexueller Belästigung. Daraufhin wurde der Sängerin vorgeworfen, die Vorwürfe als Vorwand zu benutzen, um sich zu bereichern. Gold digger, also geldgierig, wurde sie genannt. Tatsächlich hatte sie ihn nur auf die symbolische Forderung von einem US-Dollar verklagt.

Mehr als nur Popfeminismus

Immer wieder werden solche Versuche bekannter Künstlerinnen,  sich öffentlichkeitwirksam mit anderen Frauen zu solidarisieren, als Popfeminismus abgetan. Was vielen Kritiker*innen entgeht: Swift muss nicht aus Zugzwang auf irgendeinen Feminismuszug aufspringen, sondern aus Selbstschutz. Ihre Musik würde sich ohne politische Statements genauso gut verkaufen, in ihren alten Country-Fanbases der Südstaaten vermutlich sogar besser. Niemand erwartet von einer Popsängerin, deren Job es ist, möglichst gute Musik möglichst radiotauglich zu verkaufen, hochpolitisch zu sein. Im Gegenteil – sie macht sich angreifbar.

Es ist völlig klar, dass Taylor Swift als weiße, reiche, mächtige US-Amerikanerin extrem privilegiert ist. In einem Interview mit dem Guardian gab sie zu, dass ihr diese Privilegien lange selbst nicht bewusst gewesen seien, und benennt das klar als white privilege. Trotzdem zeigte sich in der Vergangenheit immer wieder, dass es letztendlich nicht ausreicht, die meistverdienende, mächtigste Sängerin der Welt zu sein, oder die erste Frau, die zweimal den Grammy für das Album des Jahres gewonnen hat, um vor Sexismus und Misogynie sicher zu sein.

Ohne Erwartungen sehnlichst erwartet

Lover ist Taylor Swifts erstes Album, dessen Richtung völlig bei ihr lag. Ihre bisherigen Album wurden immer wieder durch Diskussionen von außen getrieben. So wurde ihr etwa nach ihrem zweiten Erfolgsalbum Fearless vorgeworfen, ihren Namen als Songwriterin nur zu den Songs zu schreiben, um sich als Singer-Songwriter besser vermarkten zu können. Angeblich wären die Lieder von ihren (männlichen) Co-Autoren geschrieben worden. Als Antwort schrieb sie ihr nächstes Album Speak Now vollständig ohne Hilfe. Ihr viertes Album RED galt wiederum als heißester Anwärter für den Grammy für das beste Album – als stattdessen Random Access Memories von Daft Punk gewann, hielten die Kameras minutenlang auf Swifts enttäuschtes Gesicht. Viele Kritiker*innen fanden das Album im Sound nicht konsequent genug, zum ersten Mal mischte sich Pop unter die Countrysongs. Swifts Reaktion: 1989, ein komplettes Popalbum. Als erste Künstlerin überhaupt gewann sie damit – nach Fearless – zum zweiten Mal den Grammy für das beste Album.

Dank des Befreiungsschlags mit Reputation war nun auf ihrem siebten Album alles möglich. Bekommen haben wir eine riesige Spannbreite besten Pops: von Gute-Laune-Songs wie Paper Rings und London Boy über Sommerhits wie Cruel Summer und I Forgot That You Existed bis hin zu Hochzeitseröffnungstanz-tauglichen Balladen wie Lover. Auch die für Swift typischen Lieder für Frischverliebte und Liebeskummer sind dabei. Mit The Archer veröffentlichte Swift vorab einen ungewöhnlichen Song, der von ihren Ängsten handelt und in seinem Aufbau – in Anlehnung an den Titel – an einen Bogen erinnert, der nach und nach immer stärker gespannt wird, bis er am Ende losschießt. Die komplexen Texte erinnern mit ihren verschiedenen Ebenen stark an Swifts frühere Alben. Bei Afterglow und Daylight kommen aber auch Fans des 1989-Sounds auf ihre Kosten.

Die Macht, die hinter Swifts neuer Platte steckt, wird in Details sichtbar: So steht auf dem Cover an keiner Stelle ihr Name. Ein Bild von ihr reicht für die Chartspitzen der Welt. Zum ersten Mal liegen außerdem alle Master- und Urheberrechte bei Swift. Die Kunst, die sie selbst erschaffen hat, gehört allein ihr. Sie nutzt die vielen Promo-Interviews, um über die Menschen zu sprechen, die sie inspirieren – Regisseurin Jennifer Kaytin Robinson zum Beispiel –, und um auf Missstände in der US-amerikanischen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Taylor Swift zeigt mit ihren Songs, dass Feminismus partytauglich und Pop reflektiert sein kann. Und genau das brauchen wir in diesem Sommer.