Schnell einen Kaffee heruntergestürzt, zum Bus gerannt, auf der Fahrt Mails gecheckt, während der Vorlesung an meine To-do-Liste gedacht. Völlig außer Atem von der Bibliothek auf den Sportplatz gestürzt, kurzes Hallo bei meiner Oma und zum Abendessen die Reste vom Vortag aufgewärmt. Jetzt liege ich erschöpft und unzufrieden im Bett. Zwischen all den selbstgesetzten Aufgaben habe ich kaum Zeit für das gefunden, was ich wirklich machen wollte: In aller Ruhe meine Hausarbeit überarbeiten oder den neuen Roman lesen.

Komischerweise bin ich nicht die Einzige, der das so geht. Will ich mich mit Freund*innen spontan auf einen Kaffee verabreden, hat nie jemand Zeit. Sind wir alle einfach nur keine Organisationstalente oder steckt da ein gesellschaftliches Phänomen dahinter? Wo ist diese ominöse Zeit hin, die niemand mehr hat, aber alle so dringend brauchen?

Zeit wurde Geld

Dass wir unser ganzes Leben nach der Uhr ausrichten, ist eine vergleichsweise neue Entwicklung. In älteren Kulturen bestimmten der Lauf der Sonne und die Jahreszeiten das gemeinsame und individuelle Leben. So orientierten sich die alten Ägypter*innen an den Hochwasserzeiten des Nils und unsere bäuerlichen Vorfahren an den Erntezeiten des Getreides. Gearbeitet wurde, wenn die Sonne und die Natur es zugelassen haben. Unterschiedliche Jahres- und Uhrzeiten wurden für unterschiedliche Tätigkeiten genutzt. Ein Gefühl, das wir heute auch noch instinktiv haben. Im Sommer fühlen wir uns oft motivierter als im Winter, vormittags lässt es sich gut arbeiten, um Mitternacht gut schlafen. Unterschiedliche Zeiten haben also unterschiedliche Qualitäten.

Mit der Entwicklung der mechanischen Uhr und der Arbeitszeiterfassung per Stechuhr während der Industrialisierung änderte sich der Umgang mit der Zeit. Der Tag wurde in einzelne, gleichwertige und messbare Stunden gegliedert mit dem Anschein, dass jede Stunde gleich viel wert sei. Zeit wurde zu einer aufteilbaren, wirtschaftlichen Ressource. Zeit ist Geld, lautete nun das Credo. Unser Zeitverständnis wandelte sich von einem qualitativen hin zu einem quantitativen. Das allein erzeugt aber noch keinen Zeitdruck.

Alles wird schneller

Wie dieser in unserer spätmodernen Gesellschaft entsteht, dazu hat sich der Soziologe Hartmut Rosa unter anderem in seinem Essay Beschleunigung und Entfremdung Gedanken gemacht. Er beobachtet mehrere Bereiche der Beschleunigung: die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des Lebenstempos und die Beschleunigung des sozialen Wandels.

Technische Beschleunigung bedeutet kurz gesagt: Ein Mercedes fährt schneller als eine Pferdekutsche und die neue iPhone-Generation reagiert schneller auf unsere Eingabebefehle als die vorherigen Smartphones. Mithilfe der technischen Entwicklungen können wir Handlungen in weniger Zeit ausführen. Eigentlich müssten wir also mehr freie Zeit haben. Das klappt aber nur, wenn die Anzahl der Handlungen konstant bleibt. Faktisch machen wir aber immer mehr und die Technik kommt nicht hinterher genügend Zeit einzusparen. Ergo: Wir sind gestresst.

Mithilfe der technischen Beschleunigung wird unser gesamtes Lebenstempo schneller. Wir besuchen mal kurz die Eltern am anderen Ende Deutschlands, überfliegen gleich mehrere Artikel am Handy und schreiben gleichzeitig mit einer Hand voll Freund*innen.

Die soziale Beschleunigung lässt sich am besten anhand von unserem Lebenslauf im Vergleich zu dem unserer Großeltern zeigen. Viele Menschen der älteren Generation leben seit jeher in einer Stadt, sie lernten einen Job und blieben dabei, entschieden sich für eine Partei und wählten diese in allen Wahlen. Und wie sieht es bei uns aus? Meist ganz anders. Arbeitsplätze, Wohnorte, Werte und Familienstrukturen wechseln immer öfter. Unser gesamtes Leben wird immer schneller.

Gründe für die Beschleunigung

Diese Beschleunigung können wir an uns selbst wie in unserem Umfeld beobachten. Hier stellt sich die Frage: Warum feiern wir eigentlich die technischen Innovationen? Warum versuchen wir fünf kurze Artikel zu lesen, anstelle eines ausführlichen Beitrags? Warum zieht es uns zu immer neuen Wohnorten, Partner*innen und Vorstellungen? Und das, obwohl wir merken, dass wir uns nicht immer wohl dabei fühlen. Laut Soziologe Rosa treiben uns dabei zwei Ideen an.

Zum einen leben wir in einem kapitalistischen und leistungsorientierten Wirtschaftssystem. Ob wir das möchten oder nicht, wir müssen uns diesem System zu einem gewissen Grad fügen, um darin zu arbeiten. In einem solchen Wirtschaftssystem ist Zeit ein bestimmender Faktor. Leistung ist definiert als Arbeit pro Zeit. Möchte ich also meine Leistung verbessern, muss ich schneller arbeiten, schneller Informationen sammeln und flexibler sein. Unsere Arbeit beschleunigt sich und wir nehmen die Losung Zeit ist Geld bereitwillig an.

Der zweite Antrieb entspringt unserer Kultur. In einer zu großen Teilen säkularisierten Gesellschaft möchte sich kaum noch jemand auf ein Leben nach dem Tod verlassen. Also möglichst viel im Hier und Jetzt erleben, bevor es zu spät ist. Wir fangen an, viele Erlebnisse hintereinander zu reihen, anstatt eines voll auszukosten und versprechen uns davon ein bisschen Ewigkeit. Ein rasantes Leben erscheint uns länger und verspricht Erfüllung. So reise ich lieber in zwei Wochen durch fünf Städte, statt mir zwei genauer anzusehen und bleibe bei keiner Sportart allzu lange. Wir richten unser eigenes Leben im Job und in der Freizeit also an der Uhr aus und versuchen Zeit, wo immer möglich, einzusparen.

Zeitmangel macht unglücklich

Das Diktat der Uhr geht aber nicht spurlos an uns vorbei. Nicht umsonst liege ich abends unzufrieden und gestresst im Bett. Und nicht nur ich. Eine große Zahl von uns klagt über Stress, Zeitdruck und Unsicherheit. Wird unser gesamtes Leben, aufgrund des Wettbewerbes und dem Wunsch nach Ewigkeit, immer schneller, werden wir unausgeglichen. Um einen Sachverhalt zu verstehen, dafür brauche ich Zeit. Ebenso, um an einem Ort wirklich anzukommen und ihn mit Leben zu füllen. Oder auch um eine tiefe Freundschaft oder Beziehung aufzubauen und zu reflektieren, was ich wirklich möchte.

Doch auch wenn wir merken, dass wir nicht mehr schneller können oder wollen, haben wir oft das Gefühl weiterrennen zu müssen, um nicht abgehängt zu werden. Alle anderen hasten ja auch durch das Leben und dazu gehören möchte jeder irgendwie.

Wir müssen über unsere Zeitstrukturen nachdenken

Unsere Gesellschaft ist strukturell gestresst und wir sollten uns dringend Gedanken über unser Zeitverständnis machen. Zu erkennen, dass der Umgang mit der Zeit nicht natürlich gegeben, sondern ein veränderbares gesellschaftliches Konstrukt ist, ist schon mal ein Anfang. Auch wenn wir, um etwas zu ändern, einen wirtschaftlichen und kulturellen Wandel bräuchten, kann jede*r bei sich anfangen und zu einem qualitativen Umgang mit der eigenen Zeit zurückkehren. Das heißt: sich Zeit nehmen für ein gutes Gespräch, Pausen machen, wenn man sie braucht oder ein Wochenende mal nicht auf die Uhr sehen und nach seinem inneren Zeitgefühl leben. Aber vor allem verstehen, dass Pausen und Zeiten der Langsamkeit kein Verlust sind. Im Gegenteil: Sie sind bereichernd und notwendig. Oder in den Worten von Michael Endes Momo: "Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen."