Wenn du vom Balkan kommst und in der Diaspora groß wirst, fällt dir relativ bald auf, dass du anders bist als die anderen. Deine Schulkolleg*innen heißen Sabine oder Stefan, du kannst deinen Ostblock-Namen seit dem Kindergarten mit dem Funkalphabet buchstabieren. Während deine Klassenkamerad*innen in der Pause Stullen essen, gibt’s bei dir Burek vom Vortag. Im Sommer fliegen deine Freund*innen zum All-Inclusive-Urlaub nach Mallorca, du fährst in 'nem Yugo zu deinen Großeltern nach Ex-Jugoslawien.

Irgendwann bist du erwachsen. An 362 Tagen des Jahres lebst du ein Leben abseits von Ost-Klischees. An den restlichen drei bis vier Tagen aber ist Weihnachten. Und das bedeutet: Back to the roots. Als Teenager*in verfluchst du die Feiertage im Hinterland des Balkans. Je älter du wirst, desto mehr wird dir aber klar: Weihnachten ist auf dem Balkan einfach besser.

Die Anreise

Deutschland: Schon Wochen vor den eigentlichen Feiertagen jammern alle über die Bahn. Oder über den Stau auf der Autobahn, wenn sie in den Skiurlaub fahren. Dass das alles jammern auf sehr hohem Niveau ist, ist wenigen klar.

Balkan: Wen der Ausspruch "der Weg ist das Ziel" geprägt hat, muss zu Weihnachten an den Balkan gefahren sein. Wenn du beladen mit allerlei Mitbringseln in einem vollgepackten Bus, einem ausgebuchten Flugzeug oder in einer Autokolonne am Grenzübergang sitzt, wärmt es dir aber irgendwie das Herz, zu wissen, dass es allen Menschen um dich herum genauso geht wie dir. Sie sind Ausgewanderte, Vertriebene, Geflüchtete. Ihre Leben waren nicht immer leicht. Teilweise straucheln diese Menschen noch immer. Und doch sitzen sie alle in einem verflucht engen Fortbewegungsmittel und sind vereint im Gedanken, dass die "verschissene Grenzkontrolle endlich ihren verdammten Arsch hochkriegt! Sonst komm ich zu Neujahr an!"

Die Kleidung

Deutschland: Es scheint zwei Phasen von Weihnachts-Dresscode in deutschen Familien zu geben. Zunächst das schicke Hemd/Kleid für das Weihnachtsessen und den legeren Freizeitlook für alle sonstigen Aktivitäten.

Balkan: In Sachen Kleidung gibt es über die Weihnachtstage für alle Beteiligten auf dem Balkan nur ein Motto: s

how off statt c

hill out. Eine alte Balkan-Legende besagt, dass Frauen vom Balkan ihre Füße in den Weihnachtsfeiertagen nicht spüren, weil sie so konsequent in hohen Hacken unterwegs sind. Was auf jeden Fall wahr ist: Man zieht sich schick an. Man sieht an diesen wenigen Tagen so viele Verwandte und Bekannte wie das ganze Jahr über nicht. Da will man keinen schlechten Eindruck hinterlassen. Weniger wegen sich selbst, sondern wegen Omi, die einem das sonst passiv-aggressiv die nächsten Jahrzehnte vorhält.

Die Menschen

Deutschland: Der Begriff Nuklearfamilie muss eine deutsche Erfindung sein. Da feiern Familien im engsten Kreis, vielleicht schaut man kurz bei Omi und Opi an den

Second-Class-Feiertagen (25. und 26. Dezember) vorbei. Wenn jemand sein*e  Freund*in mitnimmt, ist das eine große Sache.

Balkan: Man feiert mit seiner Nuklearfamilie und den Großeltern. Aber auch mit Cousins, Cousinen, Tanten, Onkeln, Nachbar*innen und diesem weirden Typen, der vor dem Krieg mit deinem Vater in einer Klasse war. Kurzum: Auf dem Balkan ist grundsätzlich jede*r eingeladen. Statt zu erklären, warum man jemanden mitbringt, sollte man eher ein bis fünfzig Entschuldigungen bereithalten, warum jemand nicht dabei ist. "Was? Du hast nicht deine beste Freundin aus dem Kindergarten mitgebracht? Dabei haben wir doch noch Schweinefleisch übrig!"

Das Essen

Deutschland: Weihnachtsgans, Suppe mit Würstchen, Rotkraut mit Klößen: Wenn du deine Kolleg*innen im Büro so erzählen hörst, was sie zu Weihnachten essen werden, fragst du dich als Balkanes*in unweigerlich: Und wovon werdet ihr satt?

Balkan: Die Weihnachtsfeiertage sind eine große Mahlzeit, in deren Mitte ein Spanferkel steht. Als Vorspeise gibt es kräftige Brühe, als zweiten Gang Krautrouladen und zum Abschluss eine Platte voll Schweinefleisch. Beilagen reichen von Weiß- über selbstgemachtes Maisbrot hin zu "ausgefallenen Sachen wie Kartoffelsalat" (Originalaussage meiner Oma). Man merkt: Totes Tier ist ein wichtiger Bestandteil des Speiseplans. Manche Weihnachts-Profis haben sogar eine Feuerstelle in ihrem Garten, wo sie das Spanferkel selbst zubereiten. Hat man gerade die letzten Reste Schweinefleisch verdaut, fängt das Rad an, sich von neuem zu drehen. Drei Tage lang.

Es ist aber nicht die schiere Masse an Essen und Fleisch, die das Balkan-Menü so großartig und anders machen. Es ist die Tatsache, dass es immer und immer wieder das Gleiche ist. An einem Weihnachtsfest war ich bei vier Familien zum Essen eingeladen und habe viermal dieselbe Menüfolge gegessen. Man könnte das als eintönig empfinden. Man könnte aber auch sagen: Das nimmt jeglichen Druck raus. Es gibt keine Hektik, keine gefinkelte Menüfolge, die alle Unverträglichkeiten und Gelüste abdeckt. Stattdessen gibt es Spanferkel!

Die Geschenke

Deutschland: Viele meiner Freund*innen haben in ihren Familien Vereinbarungen geschlossen, dass man sich nichts schenkt. Das würde den Konsumterror abmildern. Aber auch wenn man sich Präsente überreicht, sind das Dinge aus der Kategorie: etwas Kleines, Feines, das sich das Gegenüber niemals selbst kaufen würde. Etwa ausgefallene Topflappen.

Balkan: Ein Großteil der Verwandten, die auf dem Balkan leben und dort nicht nur über die Weihnachtsfeiertage zu Besuch ist, hat weniger Geld als man selbst. Statt irgendeine ausgefallene Ich-schenke-dir-meine-Zeit-Gutscheinkarte zu überreichen, packt man lieber ein paar Scheine aus. Besonders beliebt und ein eindeutiges Zeichen dafür, dass man nun erwachsen ist: Man steckt kleinen Kindern Zwanzig-Euro-Scheine zu und raunt verschwörerisch: Damit du dir ein paar Süßigkeiten kaufen kannst!

Der Alkohol

Deutschland: Ein paar Gläschen Wein, vielleicht ein Schnäpschen nach dem Essen: Es scheint, als wären Weihnachtsfeste auch alkoholtechnisch in Deutschland eine sehr geregelte und zivilisierte Angelegenheit.

Balkan: Die kurze Antwort: Schnaps. Die lange Antwort: Klar, irgendwer trinkt auch Bier, irgendwer Wein, man munkelt, dass irgendwo auch Cola getrunken wird. Aber alles steht und fällt mit dem Schnaps. Jede*r hat einen Großvater, der irgendwo jenseits der westlichen Zivilisation seinen speziellen Schnaps brennt. Heißer Insidertipp von jemandem, der es auf die harte Tour lernen musste: Richtig guter Schnaps trinkt sich wie Wasser, kann dich aber besser ausknocken als die Klitschkos. Aber auch der schlechteste Fusel tut in diesem Fall seine Wirkung: Alle Gedanken an den Job, Stress und Alltag verschwinden, wenn du leicht angeschickert Turbo-Folk-Songs mit deiner Familie singst.

Fazit

So wie jede*r das Essen seiner Mutter am leckersten findet, glaubt wahrscheinlich auch jede*r, dass sein Weihnachtsfest besser ist als alle anderen. Das Weihnachtsfest auf dem Balkan ist aber wirklich etwas Besonderes. Neben all dem unglaublich vielen Essen, den einzigartigen Menschen und dem Schnaps ist es ein diffuses Zugehörigkeitsgefühl, dass die Feiertage dort so toll macht. Für ein paar Tage fühlt man sich mit Menschen verbunden, mit denen man eigentlich nicht so viel gemeinsam hat. Wie bei jedem Familienfeiertag hält dieses Gefühl aber nicht sehr lange. Danach ist man sehr dankbar dafür, wieder in sein normales Leben und in sein richtiges Zuhause zurückkehren zu können. Auch wenn man weiterhin seinen Namen buchstabieren und seine komischen Essensvorlieben erklären muss.