Immer dann, wenn ich denke, ich bin an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich mich tatsächlich erwachsen nennen kann, kommt mir wieder diese eine, lästige Sache dazwischen: Entscheidungen treffen. Ich war noch nie besonders gut darin, mich für dieses oder jenes zu entscheiden. Schließlich bedeutet eine Entscheidung für etwas auch immer eine Entscheidung gegen etwas – und niemand kann mir versichern, dass ich mich richtig entscheide.

Die Entscheidungsproblematik begleitet mich schon eine ganze Weile. Dabei treffen wir laut Forschern rund 20.000 Entscheidungen pro Tag, die meisten davon ganz unbewusst. Man könnte also meinen, ich hätte mich langsam daran gewöhnt. Die Entscheidungen werden aber leider nicht einfacher. Während die Qual der Wahl früher darin bestand, mich im Schwimmbad zwischen Minimilk-Eis und Calippo zu entscheiden, heißt es heute plötzlich: Ist er der Richtige? Passt diese Wohnung zu mir? Soll ich diesen Job annehmen?

Manchmal sind "No-Gos" genau richtig

Besonders in Liebesdingen habe ich mich gerne auf den Rat anderer verlassen. Mama, Freundinnen, Frauenzeitschriften. Ich habe wahrscheinlich jeden Beziehungstipp gelesen, mich immer brav an vermeintliche Tricks gehalten. Erfolg hatte ich damit nicht. Irgendwann habe ich ganz unbewusst eine Ist-Mir-Egal-Haltung entwickelt und alles falsch gemacht – zumindest aus Ratgeber-Sicht. Ich habe jemanden kennengelernt und beim ersten Date geküsst. Bereits beim vierten Date hat er meine Eltern kennengelernt. Nach knapp zwei Monaten Beziehung flogen wir in den Urlaub. Nach einem halben Jahr zogen wir zusammen. Wir liehen einander Geld, kauften gemeinsam Möbel und schafften uns eine Katze an. Und bisher waren all diese "No-Gos" genau richtig.

Der Trick bei dieser Entscheidungssache ist, nicht zu viel darüber nachzudenken und auf das Bauchgefühl zu hören. Dachte ich zumindest. Denn Bauch ist nicht gleich Bauch. Oder besser gesagt: Entscheidungen, die wir gefühlt aus dem Bauch heraus treffen, kommen oftmals gar nicht von da – und können ganz schön gefährlich sein. "Bauchentscheidungen im eigentlichen Sinne sind hochaffektive Kurzschlussentscheidungen", erklärt Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen. "Es sind Überlegungen, die wir unter Stress, Zeitdruck, Gefahr oder unter dem Eindruck sehr starker Gefühle wie zum Beispiel Furcht und großer Verliebtheit treffen."

Roth beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Entscheidungsprozessen und weiß: "Bauchentscheidungen haben nur den einen Vorteil: dass sie schnell getroffen werden. Ansonsten sind sie angesichts der meist komplexen Entscheidungssituationen in unserem Leben als vorschnelle, unbedachte Entscheidungen oft verhängnisvoll. Zum Beispiel, wenn wir über eine rote Ampel fahren, weil wir es eilig haben", weiß Roth. Aus wissenschaftlicher Sicht habe ich mich also ziemlich unvernünftig verhalten und einfach Glück gehabt, dass bisher alles funktioniert hat. Bauchentscheidungen sind scheinbar kein Allheilmittel. In Zukunft also doch lieber das Köpfchen anstrengen?

"Intuitive ‚aufgeschobene‘ Entscheidungen sind in komplexen Situationen die besten Entscheidungen"

Darauf, dass ihr Hirn sie schon richtig berät, hat sich vor kurzem eine Freundin von mir verlassen. Sie stand vor der Frage, ob sie für einen neuen Job ihre Zelte in ihrer Wahlheimat Berlin abbrechen und nach Hessen ziehen soll. Obwohl sie in Berlin ziemlich glücklich ist, hatte sie das Bedürfnis, irgendetwas in ihrem Leben verändern zu müssen. Da kam ihr das Jobangebot gerade recht. Nachdem sie aber reingeschnuppert hatte, stellte sie fest: Passt eigentlich überhaupt nicht zu mir. Irgendwie hatte sie kein gutes Gefühl bei der Sache. Der Drang, so schnell wie möglich etwas zu verändern, war nur leider weiterhin da – und damit auch das Dilemma.

Ganze drei Wochen lang dauerte diese Unschlüssigkeit. Pro-und-Contra-Listen wurden angefangen, aber nie fertig ausgefüllt. Familie und Freunde wurden gefragt. Alles sollte durchdacht werden, schließlich ging es um Geld, um die Arbeit, um die Zukunft. Sie wollte diese Entscheidung unbedingt erwachsen treffen. Und dann fuhr sie nach Österreich, sprang in einen kalten Bergsee und wusste beim Auftauchen plötzlich: Ich will diesen Job nicht.

Das klingt jetzt erstmal wie aus einem billigen Rosamunde-Pilcher-Film, lässt sich aber tatsächlich wissenschaftlich begründen: "Intuitive ‚aufgeschobene‘ Entscheidungen sind in komplexen Situationen, in denen rationales Vorgehen nicht mehr viel hilft, die besten Entscheidungen", sagt Roth. Fälschlicherweise halten wir diese Art von Entscheidungen für die, die wir mit dem Bauch treffen. Der hat aber gar nichts damit zu tun. Der eigentliche Dank gilt unserem Langzeitgedächtnis.

Wenn man sich pausenlos um eine Frage dreht, kommt man der Lösung nicht unbedingt näher. Mit ein bisschen Abstand geht das viel besser: "Man denkt nicht mehr darüber nach, und am nächsten oder übernächsten Tag entscheidet man ‚intuitiv‘. In der Zwischenzeit hat unser vorbewusst arbeitendes Langzeitgedächtnis die Entscheidungsarbeit für uns getan, nachdem es einmal angestoßen wurde", erläutert Hirnforscher Roth.

Geheimrezept: Abstand und Intuition

Der Verstand spielt im Entscheidungsprozess dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Unser Aktualbewusstsein ist nämlich so beschränkt und stressanfällig, dass es nur in einfachen Entscheidungssituationen brauchbar wird. Das Geheimrezept für die wirklich komplizierten Fragen des Lebens lautet daher: Abstand und Intuition. Dinge zur Abwechslung mal nicht zerdenken, sondern spontan sein und auf die innere Stimme hören. Das klingt esoterischer als es ist und tut gar nicht weh. Und falls doch: Eine Entscheidung ist selten für die Ewigkeit.

Die Art des Entscheidens von jetzt auf gleich zu ändern, ist wahrscheinlich schwierig. Mein Bauch wird sich nicht einfach raushalten, nur weil ich jetzt weiß, dass er mich zu überstürzten und vielleicht sogar gefährlichen Entschlüssen verleitet. Wie bei vielen Dingen kommt es auf die Mischung an: Ein bisschen Bauch, ein bisschen Kopf, und ganz viel Intuition. Ein eiskalter Bergsee schadet womöglich auch nicht.