Ich weiß ja nicht, wie es euch so geht – aber ich habe dank Corona seit Wochen außerhalb von Supermärkten mit keinem Menschen mehr gesprochen. Also, mit Ausnahme von mir selbst. Vorwiegend in Ausrufen wie "Huch!" oder Halbsätzen wie "Ach, ich muss ja noch …" Und ich habe mich gefragt: Machen das alle? Und was bedeutet es eigentlich, wenn wir uns angeregt mit Pflanzen, Plüschtieren und der Luft unterhalten oder uns auch mal innerlich ausschimpfen? Zum Glück gibt es jede Menge Forschung zu dem Thema und Expert*innen auf dem Gebiet.

Wie gängig sind Selbstgespräche?

"Selbstgespräche – also im engsten Sinne mit sich selber sprechen – sind sehr normal beziehungsweise weit verbreitet. Die Forschung schätzt, dass 96 Prozent der Erwachsenen regelmäßig ihre innere Stimme verbalisieren", erklärt die Münchner Psychologin Julia Haneveld. "Das machen übrigens schon Kinder so. Zwischen zwei und vier Jahren reden sie regelmäßig mit sich und verbalisieren die Erlebnisse des Tages." Nach dem fünften Lebensjahr verlagere sich dieser laute Autolog jedoch immer mehr nach innen und werde schließlich überwiegend nur noch gedacht.

Aber es unterhalten sich eben nicht nur Kinder mit sich selbst, sondern auch Erwachsene. "Alle Menschen, egal welchen Alters, sprechen regelmäßig mit sich selbst. Allerdings meist, wenn sie alleine sind – zumindest, wenn man der Studie von Brinthaupt, Hein und Kramer von 2009 glaubt", sagt Haneveld.

Der US-Psychologe Dr. Thomas Brinthaupt von der Middle Tennessee State University, der seit Jahren intensiv zum Thema Selbstgespräche forscht, hat unter anderem die Self-Talk-Skala zum Messen der Frequenz und der Inhalte von Selbstgesprächen entwickelt.

Brinthaupt zufolge kommen Selbstgespräche grundsätzlich ziemlich regulär vor. "Hinsichtlich der Häufigkeit von Selbstgesprächen zeigt die Forschung eine 'normale' Verteilung, bei der die meisten Leute irgendwo in der Mitte landen und einige wenige an den äußeren Rändern", sagt mir Tom Brinthaupt.

Wer in einem kritischen Umfeld aufgewachsen ist und wenig positiven Zuspruch erfahren hat, neigt eher zu negativen Selbstgesprächen, wertet sich darin also beispielsweise selbst ab.
Julia Haneveld

Andere Studien mit anderer Methodik hätten Ähnliches ergeben. "Demnach scheint es so zu sein, dass es einen geringen Prozentsatz von Menschen gibt, die nach eigenen Angaben dauernd mit sich reden und andere, die angeben, das kaum oder nie zu tun", erklärt Dr. Brinthaupt.

Bei der Feststellung der Frequenz von Selbstgesprächen spielt es allerdings eine entscheidende Rolle, ob sich diese Menschen dieser Alleinunterhaltungen überhaupt bewusst sind. "Manchmal geschehen diese Selbstgespräche im Stillen – also in unseren Gedanken – und manchmal eben artikulieren wir unsere Gedanken so, dass es im 'klassischen Sinn' zu Selbstgesprächen kommt", sagt Julia Haneveld.

Zusammengefasst heißt das: Die meisten von uns tun es. Wir merken es bloß oft nicht.

Wie oft wir im Einzelnen – laut oder leise, bewusst oder unbewusst – mit uns selbst reden, das hängt unter anderem von unserer individuellen Persönlichkeit und unserer Biografie ab.

Menschen, die eine hohe Gewissenhaftigkeit an den Tag legen, neigen laut Forschung beispielsweise stärker zu Selbstgesprächen als andere. Introvertierte auch mehr als Extrovertierte. Und Impulsive reden eher mit sich als sehr kontrollierte Menschen.

Diejenigen, die öfter Selbstgespräche führen, sind insgesamt innerlich mehr auf sich selbst fokussiert. Sie können auch Tendenzen zu obsessivem Verhalten an den Tag legen. Und sie verarbeiten Informationen eher verbal als visuell.

Personen, die regelmäßig Selbstgespräche führen, haben zudem ein höheres Kognitionsbedürfnis – das heißt, sie bilden sich ihre Meinung vorwiegend durch Nachdenken und inneres Abwägen, weniger durch äußere Einflüsse.

Personen, die mehr Zeit allein verbringen oder sozial isolierter sind, reden mehr mit sich selbst.

Auch die Kindheit spielt bei der Häufigkeit von Selbstgesprächen eine Rolle.

Erwachsene Einzelkinder sprechen laut Wissenschaft wesentlich häufiger und vor allem kritischer mit sich als Geschwisterkinder. Genauso wie Menschen, die kindheitsbedingt über ein gering ausgeprägtes Selbstwertgefühl verfügen, wie Psychologin Julia Haneveld erläutert: "Bezüglich des Inhalts von Selbstgesprächen weiß man: Wer in einem kritischen Umfeld aufgewachsen ist und wenig positiven Zuspruch erfahren hat, neigt eher zu negativen Selbstgesprächen, wertet sich darin also beispielsweise selbst ab."

Leute, die als Kinder imaginäre Freund*innen hatten, reden ebenfalls öfter mit sich selbst – allerdings eher positiv und bestärkend.

Zusammenfassend heißt es in der Studie The Self-Talk Scale: Development, Factor Analysis, and Validation von Tom Brinthaupt: "Es ist denkbar, dass einige Menschen schlicht anfälliger für Selbstgespräche sind als andere."

Und das führt uns zu den Frage, wann genau wir eigentlich so angeregte Selbstgespräche führen und zu welchem Zweck.

In welchen Situationen sprechen wir mit uns selbst?

Untersuchungen legen nahe, dass Selbstgespräche unserer Selbstregulierung dienen. Demnach sind Selbstgespräche wichtig dafür, Impulse zu kontrollieren, die eigenen Handlungen zu steuern und den Fortschritt beim Erreichen von Zielen zu verfolgen.

Bei der Verdeutlichung hilft die von Tom Brinthaupt entwickelte Skala. Sie besteht aus vier Hauptaspekten von Selbstgesprächen: Anweisungen, Motivation und Bestärkung, soziale Einschätzung und Selbstkritik. Konkret zeigen sich diese Aspekte in folgenden Situationen:
Wenn wir uns konzentrieren. Und dabei die nächsten Schritte vor uns hin murmeln. "Man denke nur daran, wie man in der Küche steht und ein kompliziertes Rezept kocht oder versucht, ein Regal aufzubauen", sagt Julia Haneveld. Das ist übrigens effektiv:

In einer Untersuchung der Unis Bamberg und Wien zeigte sich, dass Proband*innen, die beim Aufbau eines Fahrradständers Selbstgespräche führten, konzentrierter und strukturierter zu Werke gingen.

Wenn wir uns motivieren. Also, zum Beispiel auf einen Hügel klettern und es bis nach oben schaffen oder einen langen Artikel fertig schreiben wollen. Was sich manchmal verblüffend ähnlich anfühlen kann. Das klingt dann zum Beispiel so: "Du hast es bald geschafft! Los, Endspurt!" Und wenn wir das mit dem Regal, Hügel oder Artikel dann tatsächlich hinbekommen haben, loben wir uns selbst dafür. Was übrigens vollkommen okay ist.

Wenn wir soziale Interaktionen durchspielen. Und uns beispielsweise auf ein Bewerbungsgespräch oder ein Date vorbereiten wollen. Aber auch, wenn wir hinterher Erlebnisse und Gefühle verarbeiten und sortieren wollen – beispielsweise nach einer intensiven Begegnung, einem Streit oder einer Trennung. Selbstgespräche können unsere emotionale Verarbeitung begleiten.

Wenn wir uns kritisieren. Und uns selbst ausschimpfen. Dafür, dass wir die Anleitung nicht richtig gelesen und die Sockelleiste am Regal an die falsche Seite gehämmert oder im Bewerbungsgespräch auf die Frage "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" spontan mit "Hängematte!" geantwortet haben.

Ein ganz wesentlicher Aspekt für die Art und Häufigkeit von Selbstgesprächen ist allerdings auch das Ausmaß erlebter sozialer Isolation. "Personen, die mehr Zeit allein verbringen oder sozial isolierter sind, reden mehr mit sich selbst", so lautet die Erkenntnis von Brinthaupt und Kolleg*innen. Ein Grund hierfür konnte sein, dass wir mit Selbstgesprächen unbewusst mangelnde soziale Interaktionen kompensieren. Nach dem Motto: Rede ich halt mit Monstera oder Monchichi, wenn sonst niemand da ist.

Das haben 2013 auch deutsche Forscher*innen in einer Studie detailliert untersucht. Demnach hängen Einsamkeit und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit direkt mit der Häufigkeit von Selbstgesprächen zusammen.

Wann Selbstgespräche ein Symptom sein können

Laut Psychologin Julia Haneveld ist die Annahme, dass Selbstgespräche auf ein psychisches Problem hindeuten, weit verbreitet. Auch ein Grund, warum sich viele für ihr Gemurmel schämen – obwohl es doch nachweislich gängig und sinnvoll ist. In Ausnahmefällen können Selbstgespräche auf gewisse psychische Erkrankungen hindeuten.

"Es gibt durchaus Störungsbilder, beispielsweise aus dem schizophrenen Formenkreis, Depression oder Demenz, die als Kernsymptom eine Störung der Denkabläufe aufweisen", sagt Haneveld. "Tatsächlich sind jedoch Selbstgespräche bei einer Schizophrenie oder bei einer Depression etwas ganz anderes als die Selbstgespräche, die wir gelegentlich führen."

Wir beruhigen uns, wenn wir (positiv) mit uns selbst sprechen.

Bei Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, beobachtet man neben vielen anderen Symptomen, dass sie unter Umständen kontinuierlich die gleichen Sätze wiederholen oder laut vor sich hin schimpfen – hierbei handele es sich aber nicht um wirkliche Selbstgespräche, da die Betroffenen aus ihrer Sicht mit anderen sprechen. Sie hören oder sehen laut Psychologin Menschen, die nicht da sind, und kommunizieren mit ihnen.

"Die Grenze zur psychischen Erkrankung verläuft quasi an der Stelle, an der Betroffene nicht mehr unterscheiden können, was der Realität entspricht und was nicht", erklärt Julia Haneveld.

Wie können wir Selbstgespräche konstruktiv nutzen?

In den meisten Fällen sind Selbstgespräche vollkommen normal. Und da sie so viele sinnvolle Funktionen erfüllen, können wir sie gezielt für uns nutzen.

Der erste Schritt ist, die Selbstgespräche – ob innerlich oder verbalisiert – tatsächlich zu bemerken. Das lässt sich üben. "Klinische Forschung legt nahe, dass Menschen lernen können, sich ihrer Selbstgespräche stärker bewusst zu werden", so Tom Brinthaupt. Seine Proband*innen hätten häufig erst gemerkt, wie oft sie eigentlich Selbstgespräche führen, nachdem sie mehr über die Funktionen erfahren hatten.

Im nächsten Schritt können diese Unterhaltungen dann für verschiedene Zwecke eingesetzt werden. Wenn wir uns auch hier grob an der Skala von Brinthaupt orientieren, heißt das: Wir können Selbstgespräche bewusst nutzen, wenn wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren müssen, wenn wir Motivation und Empowerment brauchen, wenn wir uns auf zwischenmenschliche Begegnungen vorbereiten oder sie verarbeiten wollen.

In der Verhaltenstherapie werde beispielsweise gezielt mit Selbstgesprächen gearbeitet, sagt Haneveld. Wer sich zum Beispiel jeden Morgen selbst ein Kompliment macht und sich bewusst wohlwollend zuredet, stärkt damit das Selbstwertgefühl. "Wir nehmen eine neue Haltung – körperlich, aber auch uns selbst gegenüber – ein, wodurch im Körper hormonelle Prozesse in Gang gesetzt werden, die die Ausschüttung von Endorphinen begünstigen", erklärt die Psychologin. Und wenn wir das regelmäßig tun, verändern wir dadurch langfristig den oft kritischen inneren Monolog.

"Darüber hinaus können selbstdistanzierende Selbstgespräche auch zur Stresskontrolle eingesetzt werden", sagt Julia Haneveld. Wir beruhigen uns, wenn wir (positiv) mit uns selbst sprechen.

"Forscher haben erkannt, dass Selbstgespräche eine potentielle Technik zur Selbstbeherrschung und Stressbewältigung darstellen, wenn sie in der dritten Person stattfinden", sagt die Psychologin. Das heißt, wenn wir von uns zweitweise in der dritten Person sprechen, nehmen wir dadurch die Rolle eines*r Beobachter*in ein, dadurch entsteht eine gewisse Distanz und so kommen wir eher mit emotionalem Stress klar.

Außerdem hilft die verbale Stimulation des Selbstgesprächs dem Gehirn beim Lernen und bei der Informationsaufnahme. Das Erinnerungsvermögen wird gesteigert; wir finden auch Dinge leichter wieder, wenn wir mit uns reden.

Selbstgespräche gehören dazu

Wer sich also das nächste Mal bei "Hab ich eigentlich den Schlüssel dabei?", "Boah, ich hab so keinen Bock mehr" oder "Ah, ich darf die Milch nicht vergessen!" erwischt oder die Efeutute ausführlich für ihr üppiges Blattgrün lobt, kann beruhigt daran denken, dass man sich in großer, guter Gesellschaft befindet. Selbstgespräche führen – ob laut oder leise – das ist wahrlich nichts Außergewöhnliches. Es hat sogar Vorteile. Und gehört schlicht zum Menschsein dazu.