Der Tag fing eigentlich ganz normal an. Ich schob eine kleine Nummer mit meinem Freund, ging zum Arbeiten in ein Café und danach einkaufen. Später, als ich wieder zu Hause war, guckte ich in den Spiegel. Und erschrak fürchterlich. Denn über meiner Oberlippe pellte sich eine Schicht weißes Zeug ab. Eindeutig Sperma.

Das Problem war nicht, irgendetwas im Gesicht zu haben. Popel unter der Nase, Spinat zwischen den Zähnen, Soße am Kinn – so etwas passiert jeder*jedem von uns mal. Aber Sperma! Das Zeugnis dessen, dass ich gerade erst Sex gehabt hatte. Mit oralem Happy End. Und ohne mein Gesicht danach mit der Stahlbürste abgeschrubbt zu haben. Oh. Mein. Gott. Wie peinlich.

Ganz genau wie damals, als ich sechzehnjährig mitten im Sommer Schal trug, weil ein lila Knutschfleck meinen Hals verunstaltete. Das Ding war nicht nur hässlich, es stand auch für sexuelle Aktivität – und obwohl ich schrecklich neugierig auf all das Hihi und Haha war, wusste ich: So ganz sauber war das nicht, was wir da taten. Es war sogar ganz schön schmutzig.

Alle wissen es – aber keine*r soll es sehen

Obwohl die ganze Welt weiß, dass geschlechtsreife Teenager und Erwachsene in festen Beziehungen (und sogar außerhalb von diesen – so etwas soll es ja geben) möglicherweise nicht nur Händchen halten, sind die meisten von uns bemüht, diesen Umstand bloß niemandem aufs Brot zu schmieren.

Wir schieben das benutzte Gummi mit der Ferse unters Bett, wenn der*die Mitbewohner*in kurz nach dem Akt unser Zimmer betritt – auch wenn er*sie eh ahnt, was wir da grade getrieben haben. Wir schmeißen die Decke über die Spermaflecken auf dem Laken, damit der Besuch nicht stutzig wird. Und lassen das Shirt beim Ausflug an den See doch lieber an, sonst sieht noch wer die Kratz- oder Beißspuren von letzter Nacht.

Was aber wäre so schlimm daran, wenn jemand erführe, dass wir ein Sexleben haben? Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Nicht nur möglicherweise, sondern tatsächlich. Es wäre schließlich nichts als die Wahrheit.

Guter Sex, böser Sex

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn unser kollektives Verständnis von Sexualität ist zu großen Teilen immer noch schizophren: Einerseits lernen wir, dass Sex der Ursprung des Lebens ist und damit etwas Gutes. Etwas, das nahezu jede*r von uns macht oder zumindest machen will. Andererseits ist dieser ganze Themenkomplex derart scham- und schmutzbehaftet, derart tabuisiert als etwas, über das man nicht spricht, dass er gleichzeitig zu etwas Schlechtem wird.

Und so schwingt für die meisten von uns selbst bei der göttlichsten Vereinigung ein "Das, was ich hier mache, darf niemand wissen" mit. Sexualität bleibt etwas Privates, von dem bloß niemand Unbeteiligtes etwas erfahren darf. Und das liegt nicht nur am dem Menschen angeborenen Bedürfnis, beim Sex ungestört zu sein. Denn hier geht es weder darum, die eigene Kopulation auszustellen, noch darum, anderen beim Vögeln zuzugucken. Sondern einzig und allein um die völlig absurde Scham dafür, dass wir tatsächlich Sex haben.

Scham hat noch niemandem von uns geholfen, denn sie macht uns klein und hilflos.

Wir Menschen schämen uns für alles Mögliche: Für unsere nichtkonformen Körper. Dafür, dass wir nicht aufgeräumt haben oder dafür, dass wir pleite sind. Manche von uns schämen sich sogar dafür, dass sie Klopapier kaufen – was sollen die Menschen denn da denken. Bringt uns das irgendwie weiter? Nicht die Spur. Scham hat noch niemandem von uns geholfen, denn sie macht uns klein und hilflos. Es lohnt sich, sie zu überwinden. Also let's face it: Wir haben Sex. Da ist nichts dabei. Und daraus müssen wir kein Geheimnis machen.

Ich glaube, das sollte ich irgendwo aufschreiben. Damit ich mir das nochmal durchlesen kann, wenn ich das nächste Mal den halben Tag lang mit Sperma im Gesicht durch die Stadt gelaufen bin.