Ein Raum mit rund 70 Studierenden der Ohio University hört gebannt einer PR-Beraterin zu, die 90 Minuten lang Tipps gibt, wie man möglichst viel arbeiten kann. Mit Strahlelächeln stellt Tara Carmichael die Höhepunkte ihrer zahlreichen Nachtschichten und stressigen Arbeitstage vor. Das würde sich irgendwann auszahlen, sagt sie. Was hier fehlt ist eine Triggerwarnung, eine Einordnung, dass das kein objektiver Berufseinstiegsvortrag ist. Aber niemand der Anwesenden scheint abgeschreckt, ganz im Gegenteil.

Was passiert hier? Junge Menschen wachsen in ein gesellschaftliches Arbeitssystem hinein, in dem Erfolg um jeden Preis angestrebt wird. In dem es akzeptiert wird, dass die Work-Life-Balance, zumindest in den ersten Karrierejahren, ein starkes Ungleichgewicht hat. In dem Stress, Überstunden und ständige Erreichbarkeit gutgeheißen werden. Denn unsere westliche Gesellschaft findet Arbeit gut. Zum einen, weil dadurch das soziale System unterstützt wird, zum anderen, weil das historisch so gewachsen ist.

Höher, schneller, weiter, Burn-out

Das heutige Arbeitssystem ist erst rund 200 Jahre alt. Seit der Industrialisierung etwa wird der Arbeitstag in Stunden aufgeteilt. Arbeit ist dabei von ihrer ursprünglichen Notwendigkeit losgelöst. Davor wurde gearbeitet, bis der Lebensunterhalt verdient war oder bis es keine Arbeit mehr gab. Aber ein Bürojob gibt nicht aus sich heraus vor, acht Stunden zu arbeiten. Und für den deutschen Achtstundentag haben Gewerkschaften lange gekämpft.

Menschen identifizierten sich schon davor mit ihrem Beruf. Als sich im Spätmittelalter Nachnamen gebildet haben, wurde häufig der Beruf als solcher gewählt, wie etwa Bauer oder Bäcker. Der Wert den wir unserer Arbeit heute beimessen, ist deutlich gestiegen. Denn wir arbeiten nicht nur um unser Leben zu finanzieren, sondern um darüber hinaus auch andere Aspekte des gesellschaftlichen Lebens erfüllen zu können. Urlaub, Shoppen, Luxus. Am besten immer mehr, denn Fortschritt ist besser als Stillstand. Das lernen wir in der Werbung, in Wirtschaftsprognosen und im Job.

"Es gibt keinen Grund, warum wir die Bedeutung, die wir aus unserer Arbeit ziehen, auf unseren Job beziehen. Wir könnten auch den ganzen Tag Stricken und das als sinnvolle Arbeit ansehen," erklärt Arbeitspsychologe Dr. Howard Weiss von der Technischen Universität Georgia. Er unterscheidet hier zwischen Arbeit als körperlicher oder geistiger Tätigkeit und dem Lohnerwerb.

Warum arbeiten wir überhaupt?

Arbeit sei wichtig, um dem Alltag Struktur zu geben, sagt Weiss weiter. Unsere heutige Definition von Arbeit sei ein Konzept der Moderne. Gesellschaftlich gäbe es eine genaue Vorstellung, wie erfolgreiche Arbeit auszusehen hätte: Sie muss bezahlt sein. Kindererziehung, Haushalt oder die Pflege von Verwandten, das alles werde nicht oder nur gering bezahlt und zähle daher nicht als erfolgreich, sondern als selbstverständlich.

Arbeit wurde im Mittelalter schon als Mühsal verstanden."

Freizeit müssen wir uns heute also erst erarbeiten. Das ist paradox, denn wir leben auf die freie Zeit hin. "Arbeit wurde im Mittelalter schon als Mühsal verstanden, als Konsequenz auf die Vertreibung aus dem Paradies", erklärt Dr. Bernhard Debatin, Ethikprofessor an der Ohio University. "Wer nicht arbeitet, hängt nur faul zu Hause rum und hat sich Freizeit damit nicht verdient."

Auch die Freizeit wird optimiert

Aber sobald die freie Zeit da ist, füllen wir sie weiter. Mit durchgetakteten Aktivitäten, präsentieren wir sie hübsch aufgearbeitet in den sozialen Netzwerken und optimieren uns immer weiter selbst. Dem Ideal des süßen Nichtstuns jagen die meisten nur hinterher. "Die Phasen, in denen wir faul sind, ertragen wir mit schlechtem Gewissen", sagt Debatin. Der Netflixmarathon fällt daher häufig unter Prokrastination, obwohl eigentlich anderes auf der Agenda stand. Bewusst und guten Gewissens sind wir selten faul, denn es gibt schließlich immer was zu tun.

Die permanente Erreichbarkeit führe zu Stress, über den zwar viel gesprochen, aber nur halbherzig an seiner Beseitigung gearbeitet werde. "Eines der Probleme unserer Zeit ist, dass durch den Einzug der sozialen Medien in unseren Alltag, die Zeit geringer geworden ist, in der wir bewusst nichts machen. Zeit, in der man nur mit Menschen rumhängt oder anspruchslose Dinge macht, sich also treiben lässt", erklärt Debatin.

Junge Menschen wachsen in das Leistungssystem hinein

Perfektion im Arbeitsalltag bezeichnet der Ethikprofessor als Krankheit. Und das Problem sei, dass kaum jemand diesem Anspruch genüge. Die Meisten hecheln in der Arbeitswelt einem Ideal hinterher, das sie kaum erreichen können. "Gerade junge Menschen bräuchten viel mehr Feedback, was realistisch erreicht werden kann. Aber oft haben das die Älteren selbst nicht reflektiert", sagt Debatin.

Obwohl wir uns so sehr auf die freie Zeit freuen, spiegeln wir doch den gesellschaftlichen Wunsch nach mehr Arbeit und unterstützen ihn damit. Das Hamsterrad dreht sich immer schneller und wir laufen mit. "Die Entscheidung zur Faulheit und zum Nichtstun muss jeder für sich selbst ganz bewusst treffen", sagt Debatin. "Das können wir nicht dem Zufall überlassen." Zufriedenheit im Job ist wichtig, denn Arbeit schafft eine Aufgabe, aber sie braucht die bewusste Faulheit als Gegenspielerin. Und guten Gewissens öfter mal nichts zu tun, müssen wir als Gesellschaft erst wieder lernen.