Ein Prozess vor einem Strafgericht gleicht einem Theaterstück. Die Mindestbesetzung: Richter*in, Staatsanwalt*in, Angeklagte*r. Egal in welchem Gerichtssaal der Republik man sich bewegt, das Drehbuch ist immer das gleiche. Es ist die Strafprozessordnung, kurz StPO. Sie regelt, wie ein Prozess abzulaufen hat und was erlaubt ist. Die erste Fassung der StPO stammt aus dem Jahr 1879. Seitdem wurde sie oft geändert, doch viele Begriffe darin stammen aus dem ursprünglichen Gesetzestext.

Während sich Sprache im echten Leben ständig weiterentwickelt und der Duden mit jeder Neuauflage Wörter streicht und neu aufnimmt, passiert bei den Jurist*innen wenig. Wenn vor Gericht ein Dokument angesehen wird und es für das Urteil eine Rolle spielen soll, nennt sich das "Inaugenscheinnahme". Wenn es dagegen lediglich angeschaut oder angesehen wird, ist es nicht Teil der Beweisaufnahme und darf für das Urteil keine Rolle spielen. Wenn Richter*innen jemandem im Zeugenstand etwas aus einem Polizeiprotokoll vorlesen, um ihre Erinnerung zu aktivieren, dann sagen sie: "Ich halte Ihnen mal was vor." Es gäbe viele weitere Beispiele für Fachbegriffe dieser Art.

Wenn Angeklagte am Ende nicht verstanden haben, was vor Gericht passiert ist, habe ich als Richterin einen schlechten Job gemacht.
Lisa Jani, Amtsrichterin und Sprecherin des Kriminalgerichts Berlin

Ist es nötig, so zu sprechen? Wäre es nicht an der Zeit, sich dem Deutsch anzupassen, das die Menschen sprechen, über die die Gerichte urteilen?

Mit wem spreche ich hier überhaupt?

Die Kernaufgabe eines Strafgerichts ist es, einen Fall, den die Staatsanwaltschaft zur Anklage gebracht hat, zu beurteilen. Die*der Angeklagte sind Hauptdarsteller*innen in diesem Schauspiel. Doch es ist nirgendwo geregelt, dass dies in einer möglichst alltagsnahen Sprache stattfinden muss. Lisa Jani, Amtsrichterin und Sprecherin an Europas größtem Kriminalgericht in Berlin-Moabit sagt allerdings: "Wenn Angeklagte am Ende nicht verstanden haben, was vor Gericht passiert ist, habe ich als Richterin einen schlechten Job gemacht."

Die Art, wie vor Gericht gesprochen wird, hängt häufig auch von der Schwere der Straftat ab. Grob formuliert: Je geringer die zu erwartende Strafe, desto kleiner ist die Besetzung. Vor dem Amtsgericht sitzen häufig nur Richter*in, Staatsanwält*in und Angeklagte ohne Rechtsbeistand. Im kleinen Kreis zu dritt bremst es weniger, nachzufragen, ob Angeklagte alles verstanden haben. Anders sieht es vor einer Schwurgerichtskammer beim Landgericht aus, die für besonders schwere Straftaten wie Mord oder Totschlag zuständig ist. Hier sitzen neben drei Richter*innen und zwei Schöff*innen häufig noch Anwält*innen der Nebenklage, Verteidiger*innen, Sachverständige und vielleicht noch Dolmetscher*innen und Menschen im Publikum.

Je mehr Fachleute auf einem Haufen sind, desto formeller die Sprache. Sie sind vertraut mit den Fachtermini und Angeklagte verkommen oft zu Statist*innen. Häufig äußern sie sich gar nicht und fallen so als Kommunikationspartner*innen weg. Warum dann die Sprache an jemanden anpassen, der sich gar nicht am Gespräch beteiligt?

"Ey, erzähl mal!"

Wer vor Gericht ist, soll zudem spüren, dass er*sie sich nicht in einem alltäglichem Umfeld bewegt und Richter*innen sehen sich häufig auch als Respektspersonen. Diese Ausnahmesituation soll sich auch sprachlich widerspiegeln. Ein "Ey, erzähl mal, wie es am Tag der Tat ablief" passt nicht in dieses Selbstverständnis. Außerdem erfüllt die Sprache vor Gericht eine besondere Funktion. Ähnlich wie in der Medizin erlaubt sie, schnell mit einem Fachbegriff präzise etwas auszudrücken. Und schließlich sind Gerichte und Strafverfolgungsbehörden an die Gesetze und die Wörter darin gebunden. Es ist eben vor Gericht ein Unterschied, ob man etwas lediglich anschaut oder in Augenschein nimmt.

Gibt es im Bundesministerium Pläne, Gesetze sprachlich anzupassen?

Um auch für Menschen ohne juristische Vorkenntnisse verständlicher zu werden, könnte man die Gesetze sprachlich an die heutige Zeit anzupassen. Im Bundesjustizministerium, das für die deutschlandweit gültige Strafprozessordnung zuständig ist, gibt es ein Fachreferat mit dem Namen "Rechtssprache". Doch ein ganzes Gesetz sprachlich auf Vordermann zu bringen, erscheint ausgeschlossen, wie eine Anfrage von ze.tt zeigt. "Sprachliche Anpassungen und Modernisierungen finden ihre Grenze, wenn sie Auswirkungen auf das inhaltliche Verständnis und die Anwendung der Vorschriften haben können", heißt es in einer Antwort auf eine Anfrage von ze.tt. Was das bedeutet, erklärt Jani: "Die Juristin in 20 Jahren soll einen Text von vor 20 Jahren noch verstehen können, ohne sich auf eine völlig neue Terminologie einzulassen." Wenn "Wegnahme" plötzlich "Abziehen" heißen würde, wer wüßte dann noch, was genau gemeint ist?

"Eine umfassende Änderung der Vorschriften der Strafprozessordnung allein zur Modernisierung der Sprache wird deshalb nicht vorgenommen", heißt es aus dem Justizministerium. Das wäre nur dann möglich, wenn das Gesetz vollständig ersetzt würde. "Eine solche Verfahrensreform ist derzeit für die Strafprozessordnung nicht geplant", heißt es dazu weiter.

Auch künftig wird also in Augenschein genommen, eingelassen und verlesen.