Rund 15 Prozent der Deutschen tragen ein Tattoo. Was reizt die Menschen so sehr daran? Und was sagt das Motiv über sie aus?

Was in den 90ern das Arschgeweih war, ist heute die Eule. Ein Motiv, das unzählige Male auf den Körpern von Frauen rangt und auf den ersten Blick nur wenig Individualität vermuten lässt. In jeder Generation gibt es diese "Trendmotive". Dennoch weigern sich viele Tätowierer*innen mit der Mode zu gehen. Als Künstler*innen möchten sie ihren Kund*innen möglichst einzigartige Erinnerungsstücke auf dem Körper hinterlassen.

Das ist auch für Susi besonders wichtig. Ihr erstes Tattoos hat sie vor rund sieben Jahren stechen lassen. Geplant hat sie das schon mit 16: "Die Wartezeit bis zur Volljährigkeit war gar nicht von Nachteil, sonst hätte ich heute vermutlich ein schlecht überlegtes Motiv. Mein erster Wunsch war nämlich eine Tinkerbell im Nacken", erklärt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Schlussendlich ist es eine Schwalbe auf dem Rücken geworden, die ihr Onkel entworfen hat. Er arbeitet als Grafiker. "Die Schwalbe steht für meine Teenie-Zeit und die damalige Liebe zu Piraten- und Seemotiven. Ich war nämlich ein riesiger 'Fluch der Karibik'-Nerd."

Diese Liebe zu maritimen Motiven hat die 25-Jährige heute noch. Mittlerweile sind fünf ihrer Tattoos Meeresmotive. Vor kurzem ist ein Neues dazu gekommen: Ein Seemann auf dem Schienbein. Dieser war allerdings nicht geplant – sie hat das Motiv bei einem Tätowierer ausgestellt gesehen und sich sofort verliebt. 

"Es gibt bewusste und unbewusste Motive"

Psycholog*innen haben sich bereits in der Vergangenheit daran versucht, die Bedeutung von Tattoos zu analysieren. Ein sogenanntes "Arschgeweih" soll zum Beispiel die Weiblichkeit betonen und ähnlich sinnlich wie Dessous wirken. Wer sich Sterne aussucht, der sei eher verträumt und romantisch. Figuren aus der Fabelwelt stünden für den Glauben an das Gute auf der Welt – es erinnert stark an die kindliche Weltsicht. Tiere, wie Wölfe, können hingegen Stärke symbolisieren. Solche groben Einteilungen könnten als erste Orientierung dienen. Für Susi drücken ihre Tattoos vor allem ihre Verbundenheit zum Meer aus.

So eine Zuordnung fällt im ersten Moment leicht. Doch nicht jedes Tattoo lässt auf den ersten Blick etwas über den oder die Träger*in sagen. "Ein Tattoo kann über den Besitzer alles oder nichts sagen.", sagt der Psychologe Dirk Hofmeister. Wichtig ist es, sich mit den Tätowierten zu unterhalten. Nur dann bekäme man eine zufriedenstellende Erklärung. Hofmeister beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der Körpermodifikation. Er erklärt weiter, dass es bewusste und unbewusste Motive gibt. Das heißt, den Tätowierten muss nicht immer selbst klar sein, warum sie sich genau für dieses Motiv entschieden haben.

Wer hinter jedem Tattoo automatisch eine wohlüberlegte, ausgeklügelte Bedeutung erwartet, kann enttäuscht werden. Diese Meinung vertritt zum Beispiel Mark Benecke. Bei dem Kriminalbiologen gibt es kaum noch einen Zentimeter ohne Farbe auf der Haut. Die meisten seiner Tattoos sind aber aus einer Laune heraus entstanden. Und die Geschichten hinter ihnen wandeln sich mit der Zeit; und je nachdem, wem und wann er diese erzählt. So trägt er unter anderem ein Herz auf dem Körper. Das Besondere ist aber in diesem Falle nicht das Motiv – sondern dass seine Frau ihm das Herz gestochen hat.

Auch Susi zerdenkt heute nicht mehr jedes neue Tattoo: "In letzter Zeit suche ich mir eher ungewöhnliche und besondere Stile aus, die ich gerne auf der Haut hätte. Klar müssen mir die Motive auch gefallen, aber die 'tiefe Bedeutung' ist mir nicht mehr bei allen Tattoos so wichtig wie früher. Manchmal 'genügt' mir auch ein kleiner Gag als Bedeutung."

Warum Tattoos?

Dieser Frage ist der Pädagoge Tobias Lobstädt auf den Grund gegangen. "Auf einer soziologischen Ebene dienen Tätowierungen der Selbstdarstellung. Der Tätowierte möchte damit seine Individualität anzeigen, gibt seine Vorliebe und Gruppenzugehörigkeit zu erkennen oder wertet seinen Körper mit der Tätowierung als Schmuck auf, die ihn Geld, Mühe und Schmerz gekostet hat." So geht es auch Susi: "Ich will mich ja von der Masse abheben, das geht am ehesten wenn du von oben bis unten bunt bist."

Lobstädt hat in seinen Untersuchungen aber noch etwas anderes beobachtet: "Im Lebensverlauf kann das Selbstwertgefühl durch besondere Ereignisse, Krisen oder Krankheit aus dem Gleichgewicht geraten. Ich gehe davon aus, dass wiederholte Tätowierung ein Mittel zur Balance des Selbstwertgefühls ist. Dies bezeichnet man als narzisstische Homöostase." Das kann auf mehreren Ebenen geschehen: Der oder die Tätowierte kann sich durch die Blicke anderer, der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder durch das eigene Durchhaltevermögen in Bezug auf Schmerzen im Selbstwert gefördert fühlen. All diese Punkte beziehen sich allerdings nicht auf eine bestimmte Gruppe. Wo in den 80ern bis in die 90er noch eine gewisse Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht gesehen wurde, lassen sich Tattoos heute in allen Schichten und mittlerweile fast allen Altersgruppen finden.

Dennoch gibt es zahlreiche Studien, die etwas über die Persönlichkeit von Tätowierten sagen. Psychologe Dirk Hofmeister erklärt, dass sich aus der Forschung zumindest Tendenzen ablesen lassen: "Menschen, die Tattoos haben, sind eher extrovertiert, sie sind eher offen für neue Erfahrungen, abenteuerlustig und sie empfinden sich als etwas Besonderes. Frauen nehmen sich dazu eher als unangepasst und rebellisch war." Durch die unglaubliche Masse der Tattooträger*innen ist eine vollkommene Generalisierung dennoch nicht möglich. Außerdem sind sich Wissenschaftler*innen noch nicht darüber einig geworden, ob die Neigung zu psychischen Erkrankungen, wie Depressionen, bei Tätowierten erhöht sind. Eine Studie der Universitäten Ulm und Gießen fand zumindest heraus, dass sich 27 Prozent der Befragten als Kind oder Jugendliche selbst Schmerzen zugefügt haben. Doch auch hier warnt Hofmeister vor zu schneller Verurteilung von Tätowierten: Tattoos könnten ein Weg sein, gewisse Traumata zu kompensieren, das muss aber nicht immer so sein.

Das Nächste kommt bestimmt

Wer sich einmal stechen lässt, schreckt auch nicht vor dem nächsten Tattoo zurück. Das musste auch Susi feststellen. Sie hat bereits zwölf Tattoos und ist damit noch lange nicht am Ende: "Klar, das ist eine Art Sucht, aber nicht nach den Schmerzen, sondern danach, noch mehr schöne Bilder auf der Haut zu haben." Dirk Hofmeister bestätigt das. Er hat schon einige Tattoosüchtige getroffen. "Ich habe mich eine Weile mit nicht-stoffbezogenen Süchten beschäftigt, wie Sportsucht oder Spielsucht. Heutzutage kann man nach allem süchtig werden." Dieses Feld sei nur nicht gut genug erforscht. Aber Tattoosüchtige haben ihm bestätigt, dass sie nach einem neuen Motiv zwar für einen kurzen Zeitraum befriedigt sind, dann aber schnell ein neues brauchen: "Da muss man sich anschauen, was dahinter steckt – also der Wunsch nach neuer Selbstbestätigung oder Selbstentfaltung."

Tobias Lobstädt findet den Begriff Sucht an dieser Stelle nicht angebracht: "Tätowierung sehe ich nicht auf der gleichen Ebene mit einer Betäubungsmittel- oder Spielsucht. Wenig verweist auf den übermächtigen und wiederkehrenden Zwang, der das ganze Denken, Fühlen und Handeln einer Person mit dem Ziel der dauerhaften Hingabe und Suchterfüllung dominiert." Vielmehr werden diese positiven Effekt, wie die Stärkung des Selbstwertgefühls mit jedem neuen Tattoo wieder hervorgeholt. Mark Benecke sieht wieder einen anderen Ursprung für das erneute Verlangen nach einem neuen Tattoo: "Bei dem erneuten Wunsch handelt es sich eher um den Bereich Bodymodification. Manche merken beim Tätowieren, dass sie die Kontrolle haben und ihre Körper verändern können."

Die Frage nach dem "Bereuen" ist eine falsche

So ein Tattoo hat der*die Besitzer*in im Grunde ein Leben lang. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Vor allem Frauen zwischen 20 und 50 trennen sich wieder von ihren Tattoos – sie lassen sie sich weglasern. Jede*r Zehnte wählt diesen Weg: Sie*er lässt das Motiv im Laufe des Lebens erweitern oder verschönern. Das liegt zum einen natürlich daran, dass sich Tattoos bis zu einem gewissen Grad auch immer an der Mode orientieren, zum anderen verändert sich der Geschmack im Laufe des Lebens.

Benecke hält Bereuen für den falschen Weg: "Die Frage nach dem Bereuen verstehe ich nicht. Entweder man macht es oder man lässt es halt. Man sollte die Einstellung haben: Ich lebe damit und versuche es in meine Biografie zu integrieren." Deshalb hat auch er bereits ein Tattoo verschönern lassen. Susi würde auf keins ihrer Tattoos verzichten wollen: "Ich bereue keines meiner Tattoos. Klar gibt es ein paar Stellen, die mir nicht so gut gefallen, aber das sind eher Schönheitsmakel. Ich hab mir ja jedes meiner Tattoos gut überlegt und lange dafür gespart."