Ich glaube fast es war irgendwann im Mai / 

Du zeigtest dich betroffen / 

Von der Zeitverfluggeschwindigkeit", heißt es in einem Lied von Tocotronic. Nun ist die Veröffentlichung dieses Songs unglaublicherweise schon mehr als zwanzig Jahre her, aber dieses Mai-Gefühl, das ist wieder da.

Denn irgendwie scheint es, als hätten die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus etwas mit unserem Zeitgefühl gemacht. Auf der einen Seite kommt es einer*m so vor, als wäre die Zeit gerast und zugleich fühlt sie sich unfassbar schweeerfääälllig an: Der März hatte gefühlt 900 Tage aber warum bitte ist jetzt schon Mai?

Was ist denn da los?

Isabell Winkler forscht an der TU Chemnitz zu subjektivem Zeitempfinden und erklärt erst mal Grundlegendes zu unserer Zeitwahrnehmung: "Wir gehen von einem inneren Taktgeber aus. Wir wissen zwar nicht genau, wo sich der befindet, aber wir können ihn uns metaphorisch als innere Uhr vorstellen."

Und diese innere Uhr bestimmt letzten Endes auch unser Gefühl für die Zeitgeschwindigkeit, genauer: Die Aufmerksamkeit, die wir auf diese Uhr richten: "Wir haben ja in etwa ein Gefühl für die Dauer einer Minute, von fünf oder zehn Minuten", sagt Winkler. "Die Aufmerksamkeit auf die Zeit bestimmt, wie viele Takte der inneren Uhr wir mitbekommen."

Wir kennen das aus vielen alltäglichen Situationen. Das Warten auf den Bus mit Handy, dessen Akku leer ist, dauert gefühlt doppelt und dreifach so lange – weil wir die Aufmerksamkeit so sehr auf die Zeit richten, dass wir jeden Takt der inneren Uhr mitbekommen. Aber wenn wir beim Warten auf den Bus einen spannenden Text lesen oder uns durch eine beeindruckende Bilderstrecke klicken, blenden wir das Ticktack der Uhr aus. Die Zeit fühlt sich schneller vergangen an, weil wir die Takte der inneren Uhr sozusagen verpassen.


"Unsere Zeitwahrnehmung während der Corona-Krise ist also durch beides beeinflusst", erklärt Winkler, "prospektiv vergeht sie für die meisten von uns langsamer, weil wir sie als Wartezeit wahrgenommen und eine höhere Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben. Und retrospektiv wird sie uns lang vorkommen, weil wir so viele Erlebnisse in der Zeit abgespeichert haben."
Ver-rückte Zeiten. Und so werden wir uns vielleicht irgendwann in einem Mai wieder über die Zeitverfluggeschwindigkeit betroffen zeigen, wie Winkler vermutet: "Wenn wir in einem Jahr auf diese Zeit zurückblicken, werden wir – vorausgesetzt, die strengen Social-Distancing-Maßnahmen kommen nicht wieder – sagen: Was, nur drei Monate?"