Jeden Tag das gleiche Problem. Wie kriege ich die eine Stunde Fahrtzeit von Berlin nach Potsdam am besten rum? Und jedes Mal fällt mir nichts Besseres ein, als währenddessen fast manisch auf meinem Handy durch Facebook und Instagram zu scrollen. Ich schreibe sogar Leuten, denen ich unter anderen Umständen gar nicht schreiben würde. Hauptsache Beschäftigung. Hauptsache nicht still sitzen. Hauptsache Input, Input, Input. Wenn ich mir morgens nicht so eine Reizüberflutung reinfahren würde, wäre ich sicher weniger rastlos, kam mir neulich der Gedanke. Und wer weiß, vielleicht mache ich ja auch interessante Bekanntschaften, wenn meine Augen nicht permanent am Display hängen? Let the challenge begin.

Tag 1

Es können allerhöchstens dreißig Sekunden vergangen sein, als meine Hand zum ersten Mal intuitiv nach meinem Smartphone greift. Wow. So schlimm steht es also um mich. Ich schließe die Augen und atme tief durch. Beim Wiederaufmachen fällt mein Blick auf meinen Jutebeutel, der vor mir auf meinem Schoß liegt. Durch den Stoff dringt ein blauweißes Blinken. Na super. Ich habe eine Nachricht bekommen und kann sie nicht lesen. Nicht hingucken, mahne ich mich. Also Blick nach vorn.

Vor mir sitzt eine rundliche Dame mit gelocktem Topfschnitt. Nebendran ihr Miniatur-Ich aka ihre Tochter. Sie sieht exakt gleich aus. Nur 40 Jahre jünger. Einen glücklichen Eindruck macht sie nicht gerade. Wie auch, bei der Frisur. Armes Ding. Mir ist langweilig. Unruhig rutsche ich auf meinem Sitz hin und her. Ich könnte Kaugummi kauen. Hab ich noch welche? Jap. Rein damit. Als wir durch den Grunewald fahren, erstrahlt die Bahn in einer Art Strobo-Licht. Sonne, Schatten, Sonne, Schatten. Perfekter Instagram-Content. Menno.

Tag 2

"Ich flirte doch gar nicht! Ein Missverständnis", will ich rufen, traue mich aber nicht. Ein schmieriger Typ mit Hemd und Aktentasche hat mein Rumgestiere offensichtlich als Interesse an seiner Person interpretiert. Nun ist er es, der ständig zu mir rüber guckt. Ich drehe demonstrativ den Kopf zur Seite. Meine Sitznachbarin zockt ein Spiel auf ihrem Handy. Das Design kommt mir bekannt vor. Na so was. Quizduell. Hat das jetzt auch die Generation Ü50 erreicht. Piep. Die Frau hat die Tastentöne angelassen. War ja klar. Das muss ich Lisa erzählen. Ach, darf ich ja nicht. Ich fühle mich sozial isoliert. 60 Minuten Bahnfahren ohne zwischenmenschlichen Austausch. Ob sich meine Freund*innen schon Sorgen machen?

Tag 3

Ich komme mir vor wie eine Voyeurin. Neben mir unterhalten sich zwei Typen über das neue Auto, das sich der eine angeschafft hat. Beziehungsweise war es ein Präsent seines Vaters. "Eigentlich wollte ich ja keinen Smart, aber eine andere Karre hätte mir mein Alter nicht geschenkt. Der steht irgendwie auf die Dinger", erklärt er. Angestrengt schaue ich aus dem Fenster. Ich höre euch nicht zu, wirklich nicht, soll meine Geste signalisieren. Einer der beiden Typen schaut mich immer wieder leicht misstrauisch an. Sein Blick scheint zu sagen: "Kannst du dich nicht irgendwie beschäftigen? Wir fühlen uns beobachtet!". Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Nervös zupfe ich an meinen Fingern rum. Meine alte Neurose hat mich wieder. Klasse.

Tag 4

Vor mir liest ein Typ Freuds Abhandlungen zur Sexualtherapie. Jetzt verstehe ich endlich, warum diese Stoff-Bücherumschläge erfunden wurden. Ich lasse meinen Blick durchs Abteil schweifen. Von zehn Leuten sind sechs mit ihren Handys beschäftigt, zwei lesen und zwei sind in Gedanken versunken. Ich bin überrascht. So hoch ist die Smartphone-Opfer-Quote gar nicht. Ein Typ mit Halbglatze und dünnem, komplett eingegeltem, schulterlangem Haar betritt die Bahn. Nach zwei Schritten bleibt er wie angewurzelt stehen. Vor ihm steht ein Kerl, der genau gleich aussieht wie er.

Ich kann ihm die Überraschung nachfühlen. Dass noch jemand sich für diese grauenhafte Frisur entscheiden würde, war wirklich nicht zu erwarten. So langsam finde ich Gefallen am Bahn-Voyeurismus. Gierig schaue ich mich um. Meine Augen bleiben an einer Ein-Zentimeter-dicken-Make-up-Schicht kleben. Ich will sie abkratzen. Kann Haut eigentlich ersticken? Gleich mal googeln. Ach Mist.

Tag 5

Manche Leute sind immun gegen böse Blicke. Seit zehn Minuten versuche ich meinem Gegenüber klarzumachen, dass sein lautes Kaugummi-Gekaue unfassbar nervtötend ist. Schmatz, Schmatz. Das Geräusch macht mich wahnsinnig! Offensichtlich leide ich an Misophonie. War mir so auch noch nicht bewusst. Es hilft nichts, ich muss das Abteil wechseln. Fünf Minuten später: Trippel, Trippel. Ein Typ lässt im Sekundentakt seinen Fuß auf den Boden federn. Och nee jetzt. Mein Nervenkostüm wird immer dünner.

Auf einmal wird mir bewusst, dass mein Handy für mich nicht nur Ablenkung oder Beschäftigung ist, sondern auch Abschirmung. Es hilft mir dabei, die anderen Fahrgäste auf Abstand zu halten; die Enge und die Geräuschkulisse so gut es geht auszublenden. Als ich an diesem Tag auf der Arbeit eintrudele, fühle ich mich so aggressiv wie schon lange nicht mehr.

Tag 6

Keine Neurotiker*innen. Keine Facetimer*innen. Keine lautstark YouTube-Videos-Gucker*innen ("Guck mal, ein Panda-Baby!"). Die Bahn ist an diesem Morgen so gut wie leer. Es ist Wochenende. Ich setze mich ans Fenster und starre hinaus. Vertraute Umgebung zieht an mir vorbei. Ich lasse die Woche Revue passieren. Gedanken kommen und gehen. Mein Zustand ist irgendwo zwischen wach und schlafend. Mein Unterbewusstsein hat das Kommando übernommen. Ich sinke immer tiefer und tiefer. Beinahe verpasse ich meine Haltestelle.

Tag 7

Voller Tatendrang betrete ich die Bahn. Schon wieder so gut wie leer. Wochenendarbeit hat auch was für sich. Ich fühle mich erstaunlich fit, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich gestern schnurstracks eingeschlafen bin. Normalerweise grübele ich immer noch eine Runde, bevor ich wegdämmere. Diesmal nicht. Ob das wohl daran liegt, dass ich die Gedanken, die mir sonst nachts kommen, schon tagsüber gedacht habe? Und schon stecke ich wieder mitten drin in meinem Gedankensog.

Fazit

Handy aus, Entspannung an – mit dieser Erwartungshaltung bin ich in meinen Selbstversuch gestartet. Eine Woche später muss ich feststellen: Ganz so schwarzweiß ist es nicht. Wenn die Bahn voll ist, wenn es stickig, laut und warm ist, wenn hinter mir zwei Studentinnen über ihrer anstehenden BWL-Prüfung verzweifeln, neben mir Tattoo-Ronnie nervös auf seine Schenkel klopft und vor mir Oma Inga schmatzend ihr künstliches Gebiss hin und herschiebt, dann hilft mir mein Smartphone enorm dabei, mich von dieser stressigen Szenerie wegzubeamen. Ich war überrascht, wie gereizt ich teilweise auf der Arbeit ankam, weil ich mich vor all diesen Reizen nicht hatte schützen können.

In dieser Eskapismusfunktion werde ich mein Smartphone deshalb auch weiterhin nutzen. Natürlich könnte ich stattdessen auch meinen Kopf in ein Buch stecken, aber lesen erfordert einfach mal eine gute Portion mehr Konzentration und die muss man verschlafen morgens vor der Arbeit oder absolut k. o. abends nach der Arbeit erst mal aufbringen. Ich habe die Energie dazu meistens nicht. Mit Facebook, Instagram und Co. geht Zerstreuung – für mich zumindest – wesentlich leichter.

Anders sieht die Situation aus, wenn die Bahn halbwegs leer ist. Dann lässt es sich prima sinnieren und Quality Time mit sich selbst verbringen. Ganz von alleine ploppen Gedanken und Bilder auf. Eine Fahrt lang bin ich komplett in Erinnerungen an den letzten Urlaub versunken. Beseelt trudelte ich bei der Arbeit ein und fühlte mich, als hätte ich mir gerade einen Film angeschaut, so intensiv war das Kopfkino gewesen. Wer sich – so wie ich – im Alltag zu wenig Raum gibt, um Erlebtes zu verarbeiten, für den*die können handyfreie Bahnfahrten womöglich heilsam sein.

Zu guter Letzt gibt es noch einen weiteren Grund, warum ich in Zukunft auf dem Weg zur Arbeit nicht mehr ständig auf mein Smartphone glotzen will: In der Bahn passieren einfach die absurdesten, aberwitzigsten Dinge. Wenn man die anderen Fahrgäste mit Humor nimmt – und diese Einstellung habe ich mir während der sieben Tage antrainiert – dann gibt es kaum bessere Unterhaltung als Bahnfahren. Ich muss immer noch schmunzeln, wenn ich an die Mutter mit Topfschnitt denke. Beate, habe ich sie getauft. Ob ihre Tochter sich wohl jemals von ihr emanzipieren wird?