Die Toilettentür fiel hinter mir zu und ich fiel mit dem Rücken dagegen. Dann kam die Tränenflut. Die irrsinnigen, ständig wechselnden Anforderungen eines Projektes, für das ich zu dem Zeitpunkt schon über 14 Tage durchgehend über 16 Stunden täglich gearbeitet hatte, hatten mich erledigt. Ich war vollkommen überarbeitet, ein neues unlösbares Problem war aufgetaucht und ich wusste einfach nicht mehr weiter. Vor allem wollte ich nicht, dass mich jemand heulen sieht. Professionalität und so.

Das war keine schöne Erfahrung. Doch es geht viel mehr Leuten ähnlich, als man so annehmen würde. Laut einer Umfrage eines US-Jobportals unter über 3.000 Leuten haben acht von zehn Angestellten angegeben, dass sie schon mal im Job weinen mussten. Und 14 Prozent der Befragten kommen mindestens wöchentlich, manchmal auch täglich, auf der Arbeit die Tränen. Puh.

Aber wann und warum genau weinen wir am Arbeitsplatz und wie gehen wir damit um, wenn die Tränen nicht mehr zurückzuhalten sind?

Aus diesen Gründen müssen wir im Job weinen

Die Anlässe für feuchte Augen und bitterliche Schluchzer sind ebenso vielfältig wie nachvollziehbar: Fast die Hälfte der Befragten gab an, wegen Chef*innen oder Kolleg*innen im Job weinen zu müssen. Einem Fünftel sind aus persönlichen Gründen die Tränen gekommen – Trauer, Liebeskummer, andere private Probleme. 16 Prozent haben wegen Überforderung, Stress und Druck geweint und 13 Prozent auf Grund von Mobbing.

"Im Arbeitsleben gibt es heute viele Change-Situationen und Veränderungen bedeuten immer Stress", erklärt die Diplom-Psychologin und Stressexpertin Bettina Löhr. "Weinen ist eine hervorragende Erste-Hilfe-Maßnahme unseres Körpers, wenn es uns nicht gut geht. Wir bauen Druck ab und können damit Spannungen ableiten, sodass wir uns danach entlastet fühlen."

Weinen ist also, wenig überraschend, eine vollkommen normale, menschliche und gesunde Reaktion. Dennoch wird es besonders im beruflichen Umfeld noch oft als Zeichen von Schwäche betrachtet.

Stärke zeigen, einen kühlen Kopf bewahren, Kontrolle behalten – über sich selbst, den Job und alles andere – das sind Fähigkeiten, die häufig am Arbeitsplatz gefordert sind. Wer weint, zeigt hingegen Gefühl, Verletzlichkeit, Kontrollverlust. "Deshalb ist es uns unangenehm, wir sind uns selbst peinlich – dabei sind wir alle nur Menschen und niemand ist immer stark", sagt Bettina Löhr. Emotionen zuzulassen und nicht zu unterdrücken, das sei langfristig gesehen wichtig.

Auch für Kolleg*innen kann ein plötzlicher Tränenausbruch verwirrend sein: "Oft fehlt in unserer Leistungsgesellschaft ein guter Umgang mit Trauer oder Tränen, wir haben meist kein Verhaltensrepertoire für solche Situationen. Als Gegenüber fühlt man sich hilflos." Und das, obwohl uns allen manchmal zum Heulen zumute ist und jede*r dieses Gefühl selbst gut kennen dürfte.

Das kannst du tun, wenn im Job die Tränen kommen

Egal, wie dick das Fell, wie undurchdringlich der Panzer ist: Manchmal müssen die Emotionen einfach raus. Aber was dann? "Wer merkt, dass gleich die Tränen kommen: Erst mal tief einatmen, kurz die Luft anhalten und dann lange ausatmen", rät Bettina Löhr. "Das hilft sehr gut, die Gefühle zu regulieren und nicht automatisch zu reagieren."

Im nächsten Schritt sei es wichtig, kurz die Situation einzuschätzen: Ist rausgehen gerade die bessere Idee oder geht auch am Arbeitsplatz weinen? Wer keine Lust auf Erklärungen hat und einfach mal Dampf ablassen will, kann auch auf die Toilette, in den leeren Konferenzraum, die Küche oder einfach eine Runde um den Block gehen. Das sollte jede*r in der jeweiligen Situation für sich selbst entscheiden.

Dabei müssen auch gar keine nie endenden Sturzbäche fließen. "Wir können es bewusst dosieren. Fünf Minuten weinen – und dann wieder aufhören", so die Stressexpertin. "Wir geben uns damit innerlich die Erlaubnis, die Wut, Verzweiflung oder Ohnmacht, die wir gerade spüren, zuzulassen – dann aber auch wieder abzustellen. So, wie man einen Wasserhahn auf- und wieder zudreht." Allerdings gelte das nicht für Ausnahmesituationen wie akute Trauer, die sich nicht steuern lässt und viel Zeit braucht.

"Alle Gefühle gehören zum Leben dazu, aber es ist auch immer unsere Entscheidung, wie lange wir uns negativen Gefühlen aussetzen möchten", sagt Bettina Löhr. "In manchen Momenten muss man seine Emotionen kurz hinten anstellen, um weiter funktionieren zu können."

Und wenn ein*e Kolleg*in plötzlich im Job weinen muss? In so einem Moment sei das Wichtigste, keine Ratschläge zu geben, sondern einfach da zu sein und zuzuhören. "Ein Taschentuch reichen, Wasser einschenken, die Tür schließen", sagt Bettina Löhr. "Der beste Trost ist manchmal, wortlos da zu sein. Jeder Mensch braucht Unterstützung und Zuspruch."

Langfristige Strategien und Veränderungen

Letztlich hängt das Bedürfnis, im Job weinen zu müssen, mit dem grundsätzlichen Betriebsklima, der Unternehmenskultur und den Strukturen zusammen. "In einem Arbeitsumfeld, das von Wertschätzung und Interesse geprägt ist, wird es nicht allzu oft vorkommen, dass Menschen dort in Tränen ausbrechen", meint Bettina Löhr. "Ein gutes Betriebsklima ist auch gut für die Gesundheit der Angestellten und wirkt sich positiv auf die Anwesenheitsquote sowie die Produktivität aus. Deshalb sollten Führungskräfte es fördern und zum Beispiel Mobbing strikt unterbinden."

Wer in einem besonders herausfordernden, stressigen und unangenehmen Umfeld arbeitet und öfter das Gefühl hat, im Job weinen zu müssen, kann sich übrigens auch langfristige Strategien überlegen. "Wir können uns in unserer Vorstellung vorher schon eine Rüstung oder eine Art mentalen Teflon-Mantel anziehen", sagt Bettina Löhr. Außerdem helfe ein Resilienz-Training; dabei werden Fähigkeiten, flexibel mit Krisen umzugehen, geübt und innere Stärke und Belastbarkeit entwickelt.

Weinen ist okay, total normal, gesund und gehört zum Menschsein dazu. Auch am Arbeitsplatz. Doch auf Dauer ist ein Job, in dem Tränen Teil des Tagesgeschäfts sind, eventuell wirklich nicht die beste Wahl – möglicherweise wird es Zeit, sich nach einer anderen, weniger belastenden und erbaulicheren Aufgabe umzuschauen, wo zur Abwechslung höchstens mal Freudentränen fließen.

Außerdem auf ze.tt: Keine Reaktion ist so aufrichtig wie Weinen