Viktor Orbán gilt als rechter Hardliner. Der ungarische Ministerpräsident hat sein Image als Nationalist in jüngster Vergangenheit stark voran getrieben. Er entrechtete Geflüchtete, baute demokratische Institutionen ab und Mauern auf, peitschte kürzlich sogar eine Reform durchs ungarische Parlament, die das Aus für eine renommierte Universität in Budapest bedeuten könnte.

Doch Orbán war nicht immer so, sagte der belgische Politiker Guy Verhofstadt am Mittwoch in Brüssel. Bei einer Sitzung blickte er dem ungarischen Ministerpräsident direkt in die Augen und erinnerte ihn an seine Vergangenheit: "Als wir uns im Dezember 1989 kennenlernten, waren Sie so etwas wie der ungarische Emmanuel Macron." Orbán sei damals ein liberaler Demokrat gewesen und habe ihm persönlich versichert, nach dem Kommunismus genau das für Ungarn zu wollen.

Bei einem Vorredner, der Orbán angriff, lächelte dieser nur amüsiert in sich hinein, wie Spiegel Online berichtet. Bei Verhofstadts Rede dagegen schien etwas in Orbán zu arbeiten. Womöglich, weil sie auf einer tieferen, persönlicheren Ebene funktionierte.

Ein Appell an die Seele Viktor Orbáns

"Seien wir ehrlich: Die Dinge haben sich geändert seit 1990 und seit wir uns trafen. Und Sie haben sich geändert", fuhr Verhofstadt fort. "Sie haben ihre demokratischen Prinzipien über Bord geworfen und sagen das sehr offen: 'Ich will keine liberale Demokratie erreichen, ich will einen nicht-liberalen Staat.'"

Die Liste von Orbáns Bestrebungen, genau das zu erreichen, sei lang. Verhofstadt sprach die Gängelungen an NGOs und Medien an, und dass Orbán sogar mit der Wiedereinführung der Todesstrafe liebäugelt. Nun habe er zudem entschieden, eine Universität zu schließen.

Ich habe eine Frage an Sie: Wie weit werden Sie gehen? Was ist das nächste Ding? Bücher verbrennen?"

Zwischen jedem dieser Sätze machte Verhofstadt eine Pause, um das Gesagte wirken zu lassen. Orbán wirkte wie versteinert. "Wenn ich Sie so ansehe, wirken Sie so, als seien Sie stolz darauf", sagte Verhofstadt und äffte Orbán nach, "'toll, dass ich das alles so sagen kann.'" Auf ihn mache es den Eindruck, als hätten wir es heute mit einer modernen Version des kommunistischen Ungarns zu tun, mit exzessivem Protektionismus und Nationalismus. Ein Tiefschlag: Eines von Orbáns größten politischen Zielen war, Ungarn aus dem Kommunismus herauszuführen, nicht in einen neuen zu stürzen.

Zusätzlich falle Verhofstadt auf, wie paranoid Orbán mittlerweile sei. "Überall im ungarischen Staat sehen Sie Gegner", sagte er. Gegner in der Energiepolitik, in den Medien, in NGOs, sogar in Akademiker*innen. "Es ist, als seien Stalin oder Breznew zurück. Nur eben in Ungarn." Auch diese Menschen hatten ihre Zeit mit Paranoia, wollten alle ihre Kritiker*innen jagen und verfolgen.

Verhofstadt, der von 1999 bis 2008 selbst Ministerpräsident in Belgien war, schloss seine Rede vor dem EU-Parlament mit einem Appell an den ungarischen Ministerpräsidenten. Ungarn sei der Europäischen Union 2004 beigetreten und habe sich deren Werte per Unterschrift verpflichtet. Orbán kenne diese Prinzipien sehr genau. "Alle, die Rechten und Linken in diesem Haus respektieren sie. Sie haben faktisch jedes einzelne dieser Prinzipien verletzt", sagte Verhofstadt. Dennoch wolle er Teil der EU bleiben. "Ich habe mehr Respekt vor Euroskeptikern, die wenigstens offen sagten, dass sie die Werte der EU ablehnen und austreten wollen." Orbán wolle zwar das Geld der europäischen Fonds, das Geld der Europäischen Union – aber nicht deren Werte teilen.

"Wie nennen Sie das? Ich würde sagen 'nicht sehr mutig'", sagte Verhofstadt. Orbán handele nicht im Sinne eines Politikers mit Haltung. "Meine letzte Frage an Sie: Denken Sie nicht, es ist an der Zeit, wieder eine Entscheidung zu treffen? So wie die, die Sie trafen, als Sie von einem liberalen Politiker zu einem Nationalisten wurden? Ist es nicht an der Zeit, dass Sie sich selbst in ihrer Seele fragen, wie Sie in Zukunft erinnert werden möchten?"