Über eine Stunde hat es gedauert, bis alle Namen der 100 Opfer des ehemaligen Krankenpflegers Niels Högel vor Gericht verlesen wurden. Am Montag startete in Oldenburg der größte Mordprozess der Nachkriegszeit. Der 41-Jährige hat bereits gestanden, zwischen 2000 und 2005 in zwei Kliniken, in denen er angestellt war, Patient*innen mal aus Langeweile, mal aus Geltungssucht getötet zu haben. Er verabreichte ihnen eine Überdosis von Medikamenten, um akute Herzprobleme auszulösen. Nach einer erfolgreichen Reanimierung konnte er am Ende als Held dastehen. Ging das nicht auf, war es Högel egal. Bereits im Februar 2015 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, damals jedoch nur für knapp 30 Morde. Bis dann weitere ans Tageslicht kamen.

Das besonders Perfide an dem Fall ist, dass der Leitung und den Kolleg*innen im Klinikum Oldenburg, wo Högel zunächst als Pfleger auf der Intensivstation arbeitete, dessen Vorgehen nicht unbemerkt blieb: Bereits im Jahre 2001 wurde dort über die auffällige Häufung von Reanimationen und Sterbefällen, wenn Högel Dienst hatte, diskutiert. Leitende Ärzt*innen schlossen aus, dass es sich um Zufälle handelte. Nachdem Högel zunächst in eine andere Abteilung versetzt wurde, sorgte ein Chefarzt schlussendlich für seine Entlassung. Man stellte ihm ein makelloses Arbeitszeugnis aus, um ihn stillschweigend loszuwerden. In Oldenburg soll Högel damals bereits 36 Menschen getötet haben. Im Klinikum Delmenhorst folgten mindestens 64 weitere. Im Juni 2005 wurde Högel von einer Kollegin auf der Intensivstation auf frischer Tat ertappt, als er vorsätzlich die Spritzenpumpe eines Patienten manipulierte. Diesmal gab es kein Wegsehen.

Es hilft nicht immer, das Krankenhaus zu informieren

Es ist kein Wunder, dass die größte Mordserie der Nachkriegsgeschichte da geschehen konnte, wo Menschen am hilfebedürftigsten sind. Patient*innen sind Ärzt*innen und dem Pflegepersonal ausgeliefert – nicht nur aufgrund ihres körperlichen Zustandes, sondern auch, weil sie in den meisten Fällen eine große Wissenslücke über medizinische Vorgänge trennt. Patient*innen müssen bedingungslos vertrauen, wenn ihnen eine Spritze mit unbekannter Flüssigkeit in die Venen gejagt wird. Was tun, wenn man bei der Behandlung ein ungutes Gefühl hat? Ärzt*innen und Pflegepersonal sich auffällig benehmen?

Der Mediziner und Sachbuchautor Karl Beine schätzt rund 21.000 Tötungen jährlich in Krankenhäusern und Heimen. Der Fall von Högel und das Verhalten des Klinikums in Oldenburg haben gezeigt, dass es nicht immer automatisch hilfreich ist, ausschließlich die Verantworlichen des Krankenhauses zu informieren. Zwei Ärzt*innen, der Pflegedienstleiter einer Intensivstation und seine Stellvertreterin wurden ebenfalls angeklagt, weil sie nicht eingeschritten seien, obwohl sie weitere Tötungsdelikte durch Högel für möglich gehalten haben. Ihr Fall wird im nächsten Jahr verhandelt.

Whisteblower-Systeme, Monitoring und Eignung per Gutachten

Staatliche und private medizinische Einrichtungen stehen häufig unter großem finanziellen und das Personal unter zeitlichem Druck. Verantwortliche können sich dazu entscheiden, lieber den Ruf ihrer Klinik zu schützen, als Fälle wie die von Högel aufzuklären. Es kann auch vorkommen, dass Angestellte das auffällige Verhalten ihrer Kolleg*innen bemerken, jedoch Angst haben, jemanden grundlos zu beschuldigen, die eigene Stelle zu riskieren oder das Arbeitsklima zu vergiften. Daher fordert etwa die Stiftung Patientenschutz ein verpflichtendes Whistleblower-System in Krankenhäusern, ein anonymes Portal, um Hinweise zu geben und externe Anlaufstellen und Vertrauenspersonen für Betroffene und Angestellte.

Eine weitere Forderung ist eine systematische und digitale Erfassung der Medikamente, die an Patient*innen verabreicht werden, und die Dokumentation von Todeszeitpunkten und Schichtdiensten, auf die externe Prüfer*innen zugreifen können.

In der Welt forderte die Journalistin Anette Dowideit bereits im vergangenen Jahr, dass wir in Deutschland "Patientenschutz wie in Großbritannien" brauchen, wo das Gesundheitssystem in staatlicher Hand liegt. Dort nehme man Ärzt*innen und Pfleger*innen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, vorläufig aus dem Betrieb. Erst wenn ihre Eignung per Gutachten belegt sei, dürften sie in den Klinikalltag zurückkehren.

Ein besserer Patient*innenschutz muss sich jedoch nicht nur auf präventive Maßnahme begrenzen: Vor über einem Jahr wurde etwa in dem Klinikum Delmenhorst, an dem Högel angestellt war, die "qualifizierte Leichenschau" eingeführt. Seitdem werden verstorbene Patient*innen nicht nur von den Krankenhausärzt*innen untersucht, sondern von externen Mediziner*innen. Für Hinterbliebene ist das ein wichtiger Weg, um Zweifel nach dem Tod ihrer Angehörigen aus der Welt zu räumen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) bemängelt jedoch, dass sich diese Praxis nicht in der Gesetzgebung als verpflichtend wiederfindet.