Großbritannien entscheidet sich für den Ausstieg aus der EU – und für Nationalismus. Die tiefe Spaltung Europas ist real und ein ungutes Zeichen. Ein Kommentar von Julia Schramm.

Um es direkt zu sagen: Der Brexit ist keine Chance, sondern ein weiterer Schritt in der gefährlichen Polarisierung der europäischen Gesellschaften.

Die EU muss erst zerstört werden, damit etwas Neues entstehen kann? Das ist ungefähr so sehr eine Chance auf einen Neuanfang wie ein Bürgerkrieg. Dass wir den mental-verbal schon längst haben und Europa politisch tief gespalten ist, haben wir bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl zuletzt erlebt. In Österreich ging es noch gut und der rechte FPÖ-ler verlor knapp. Einmal durchatmen.

Aber die Polarisierung, der digital-verbale Bürgerkrieg und die kapitalistische Gesamtsituation sind immer noch da. Und so erleben wir mit dem Brexit einen neuen Eskalationsschritt. Eine Eskalation, die wir seit längerer Zeit beobachten können, die viele Menschen ängstigt und unaufhaltsam erscheint.

Aber was ist eigentlich los?

Die EU gilt schon lange nicht mehr als das Friedensprojekt, als das es mal gedacht war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie der Versuch, den nationalstaatlichen Terror zu überwinden. Ein Projekt, um zu einen, um Frieden und Wohlstand in Europa zu gewährleisten.

Lange ging das auch gut mit dem Wohlstand und dem Konsum und dem Urlaub in Italien. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch der globale Kampf um Ressourcen massiv zugespitzt und die europäischen Wohlstandsinseln zerfallen im weltweiten Verteilungskampf. Das macht Angst – auch denen, die streng genommen nicht zu den gesellschaftlichen Verlierer*innen gehören.

Abstiegsängste scheinen dabei sogar schwerer zu wiegen als tatsächlicher Abstieg – ein fruchtbarer Boden für Rechtspopulist*innen, die seit Jahrzehnten ihre menschenverachtenden Ansichten verbreiten und nun Erfolg haben. Insbesondere bei denen, die von den eigenen Gesellschaften abgehängt worden sind: Arbeiter*innen, Arbeitslose, nicht-Akademiker*innen und auch Migrant*innen.

Menschen fühlen sich ausgeliefert und entfremdet

Die Politik der EU steht dabei schon länger für eine systematische gesellschaftliche Entsolidarisierung. Die Menschen erleben jeden Tag, wie sie ausgebeutet werden, wie den Profit ihrer Arbeit andere einstreichen. Sie haben gesehen, wie die EU unter Merkel Griechenland den Konzernen zum Fraß vorgeworfen hat.

Und so glauben die Menschen den rechten Scharfmacher*innen. Selbst, wenn sie offensichtlich lügen. Denn die Rechtspopulist*innen geben ihnen das Gefühl zu handeln, etwas zu tun, wirksam zu sein – endlich, denn die meisten Menschen fühlen sich hilflos, ausgeliefert und entfremdet.

Sie wollen wirken, sie wollen handeln, irgendetwas tun – und wählen dann AfD oder wie jetzt in Großbritannien für den Brexit. Und zwar entgegen der eigenen Interessen. Denn der Brexit wird wirtschaftlich katastrophale Folgen für die meisten Befürworter*innen haben.

Aber nichts scheint derzeit so attraktiv wie das Gefühl, handeln zu können. Auch, wenn das den Zusammenbruch der EU bedeutet. Der Erfolg des Rechtspopulismus ist so gesehen auch eine Form der Weltflucht, frei nach dem Motto: Besser die Welt brennt, als dass es so weitergeht.

Also, was tun?

Die gute Nachricht: In Zeiten, in denen Referenden und Bundespräsidentschaftswahlen von europäischen Provinzen wie ein Halbfinale bei der Fußball-EM verfolgt werden, kann nicht von Politikverdrossenheit gesprochen werden. Im Gegenteil: Wir erleben gerade die Wiedergeburt der Politik.

Nur was bedeutet das? Und was machen wir daraus?

Derzeit sammeln sich die Rechten, vernetzen sich, nutzen das Internet für Agitation und Propaganda so erfolgreich, wie es die meisten Leute nicht mehr für möglich gehalten hatten (warum eigentlich – Verdrängung?). Sie fahren demokratische Siege ein, meist mit offenkundigen Lügen. Aber das war schon immer so.

Auf der anderen Seite steht eine verunsicherte Linke, die an die eigenen sozialistischen Werte nicht mehr glauben kann, die sich verliert in postmodernen Identitätskonflikten und die auch eine gewisse Herablassung für das Proletariat empfindet, das zu Primark geht und Sido hört.

Eine Linke, die bisschen Angst vor Stammtischen hat, seien sie nun digital oder nicht, die sich am Nationalstaat festhält und den Iran für einen probaten Ersatz für die Sowjetunion hält. Wenn sie denn mitbekommen hat, dass die Sowjetunion nicht mehr von Genoss*innen regiert wird.

Doch diese Linke muss sich dringend einkriegen und gemeinsam kämpfen. Gegen Nationalstaaten, gegen den Kapitalismus, gegen Menschenverachtung – oder einfach: für Sozialismus.

"Es ist, als käme die Geschichte gerade ins Trudeln", schrieb Stephan Detjen, der Chefkorrespondent des Deutschlandradio in Berlin, auf Facebook. Recht hat er.

Oder wie es Yoda sagen würde: Gekommen die dunklen Zeiten sind.