Es ist der Anfang des Jahres 1919 und Rosa Luxemburg irrt mit Karl Liebknecht durch die Straßen von Berlin. Die beiden sind die Köpfe der revolutionären Bewegung in Deutschland – und sie sind auf der Flucht. Sie werden gejagt von reaktionären Militärs, in der rechten Presse wird gegen sie gehetzt. Der Schriftzug "Schlagt ihre Führer tot!" ist auf Plakaten in der ganzen Stadt zu lesen. Ihr Telefon wird abgehört, ihre Post überwacht. Luxemburg und Liebknecht müssen untertauchen.

Unterschlupf finden sie in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf bei dem befreundeten Ehepaar Marcusson. Doch nur einen Tag später dringt die Wilmersdorfer Bürgerwehr in die Wohnung ein, nimmt beide fest und bringt sie zum Hauptmann der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, Waldemar Pabst. Für ihn ist Rosa Luxemburg "gefährlicher als alle anderen, auch die mit der Waffe". Sie und Liebknecht werden am 15. Januar 1919 von treuen Offizieren ermordet. Luxemburgs Leiche wird in den Landwehrkanal geworfen und erst vier Monate später geborgen.

Rosa Luxemburg, (k)eine Feministin?

Rosa wird 1871 in eine jüdische Familie im polnischen Zamość geboren. Mit 17 legt sie das Abitur als Klassenbeste ab. Dass sie als Mädchen zu dieser Zeit auf ein Gymnasium gehen darf, verdankt sie nur ihren herausragenden Leistungen. Die Schulleitung verweigert ihr zum Abschluss jedoch die zu solchen Anlässen übliche Goldmedaille – wegen angeblicher oppositioneller Haltung gegenüber den Behörden. Rosa zieht anschließend in die Schweiz. Die Universität Zürich ist Ende des 19. Jahrhunderts die einzige Hochschule im deutschsprachigen Raum, an der Frauen und Männer gleichberechtigt studieren dürfen.

Wissenschaftler*innen sind sich bis heute uneins darüber, ob Rosa Luxemburg eine Feministin war oder nicht. In der Tat hätte sich Luxemburg selbst dieses Label wohl nicht gegeben. Die Wortführerin des linken Flügels der SPD und spätere Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands engagierte sich nicht in der Frauenbewegung. Den Kampf für das Frauenwahlrecht überließ sie weitestgehend ihrer engen Freundin Clara Zetkin. Frauenemanzipation sah sie jedoch als Gradmesser für die allgemeine Emanzipation einer Gesellschaft – und in unmittelbarer Emanzipation von der bürgerlichen Familie. So war Luxemburg zwar einmal für fünf Jahre verheiratet, allerdings nur, um eine permanente Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland zu erhalten. Mit dem Mann, der Sohn ihrer schweizerischen Gastfamilie, hatte sie weiter nichts zu tun. Außerdem drängte sie ihre Freundin Zetkin dazu, sich scheiden zu lassen, als die ihren Mann nicht mehr liebte. 

Für die US-amerikanische Philosophieprofessorin Nancy Holmstrom ist Luxemburg damit – nicht nur für Feminist*innen – heute ein Vorbild, weil sie ein politisches und privates Leben führte, das sich über Erwartungen an Frauen hinwegsetzte. Unerschrocken legte sie sich mit den Männern ihrer Zeit an und wollte im Kampf gegen die, wie sie es nannte, erstickende Luft der Spießbürgerfamilie mehr Frauen in die Politik bringen.

Luxemburg dachte Sexismus, Rassismus und Klassismus zusammen

Zudem erkannte Rosa Luxemburg schon Jahrzehnte bevor der Begriff der Intersektionalität in die feministische Theorie Einzug erhielt, dass verschiedene Formen der Ausbeutung von Menschen untrennbar miteinander verbunden sind: Sexismus, Rassismus und Klassismus. Zentrale Bedeutung misst sie dabei der Kategorie Klasse zu. Luxemburg wird deshalb in der Literatur immer wieder, unter anderem von der US-amerikanischen Rechts- und Politikwissenschaftlerin Drucilla Cornell, als eine sozialistische Feministin bezeichnet.

Sozialistische Feminist*innen würden genauso wie liberale Feminist*innen heute für eine gesetzliche Verankerung des Rechts auf Schwangerschaftsabbrüche eintreten, diese aber mit Forderungen nach Krankenversicherung, Kinderbetreuung und gleichem Lohn für gleiche Arbeit verbinden – damit Frauen wirklich über ihre Reproduktion selbst bestimmen können. Der Kapitalismus ist für Luxemburg der Rahmen, in dem sich andere Unterdrückungsformen wie Sexismus und Rassismus entfalten können. Eine Befreiung der Arbeiterklasse und anderer marginalisierter Gruppen hielt sie nur durch eine sozialistische Revolution für möglich.

Keine Menschen erster und zweiter Klasse

Luxemburg war für das allgemeine Wahlrecht – das das Wahlrecht für alle Frauen umfassen sollte –, verwies aber auch auf Klassenunterschiede unter Frauen: Bürgerliche Frauen profitierten demnach vom herrschenden System, ihr Klasseninteresse sei damit gegen den Sozialismus gerichtet. Leidenschaftlich setzte sie sich daher vor allem für die Rechte von Arbeiterinnen ein. In diesen Frauen sah sie das Potenzial, das kapitalistische System anzugehen – zum Beispiel auch die Tatsache, dass Hausarbeit im Kapitalismus kein Mehrwert zugeschrieben und damit als unproduktiv verstanden wird. "Proletarierin, Ärmste der Armen, Rechtloseste der Rechtlosen, eile zum Kampfe um die Befreiung des Frauengeschlechts und des Menschengeschlechts von den Schrecken der Kapitalherrschaft. Die Sozialdemokratie hat dir den Ehrenplatz angewiesen. Eile vor die Front, auf die Schanze!", schrieb Luxemburg 1914.

Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verortete Luxemburg in einem Kontext von imperialer und kolonialer Ausbeutung, forderte zur Solidarität mit Frauen im globalen Süden auf und kämpfte gegen jedwede Strukturen, die eine Spaltung in Menschen erster und zweiter Klasse begünstigten. Um die Kämpfe von LGBTQIA zu kennen, hat Luxemburg nicht lang genug gelebt, schreibt die Professorin Drucilla Cornell. Doch scheint Cornell klar, dass Luxemburg niemals akzeptiert hätte, jemandem die Menschlichkeit abzusprechen, weil er oder sie anders leben oder lieben wollte. Mit ihrer Idee von Menschlichkeit war Luxemburg ihrer Zeit weit voraus – und zutiefst feministisch.