In der Straßenbahn und im Zug starren andere Menschen Alex oft an. Kinder fragen: "Mama, was ist denn das für einer?" Alex Jürgen* kneift die Augen zusammen, während er davon erzählt. Kinder kennen keine Tabus. Keine Scham. Keine Privatsphäre. Auch Erwachsene verunsichert es, dass sie Alex in keine Schublade stecken können. Mann oder Frau? Oder dazwischen?

Weiche Gesichtszüge. Freundliche Augen. Ein rundes Gesicht. Kurzes Haar. Eine gehäkelte Mütze auf dem Kopf. Blonde feine Härchen im Gesicht, kein Bart. Groß, mit breiten Schultern. Ein grünes weites T-Shirt, Tattoos an den Armen. Zigarettenpackung in der Hand. Das ist Alex Jürgen.

Wie aus Jürgen Alexandra wurde

Nach der Geburt wurde Alex "Jürgen" genannt. So steht es auch in der Geburtsurkunde. In einem oberösterreichischen Dorf hieß es, die Familie habe einen kleinen Jungen bekommen. "Gleich vom ersten Atemzug an, schien mein Leben ein Desaster zu werden. Bei meiner Geburt haben die Ärzte nicht recht gewusst, was sie in die Geburtsurkunde schreiben sollen. Die Genitalien sahen eindeutig uneindeutig aus. Angeblich ein zu kleiner Penis, obwohl ich aus Operationsberichten weiß, dass das, was mir da mit sechs Jahren weggeschnitten wurde, drei Zentimeter lang war", erzählt Alex Jürgen Jahre später auf seinem Blog.

Die Ärzt*innen kreuzen "männlich" auf der Geburtsurkunde an. Zwei Jahre später legen sie den Eltern nahe, Jürgen ab jetzt als Mädchen zu erziehen und ihn, wenn er etwas älter ist, operieren zu lassen. Sie erzählen von Krankheiten, Krebs und Haaren auf den Brüsten. Davon, dass Jürgen sonst niemals Geschlechtsverkehr haben können wird. Sich niemals zu einem Mann entwickeln werden könne und der Penis nicht funktionsfähig sei. Zudem sei ein Geschlecht nicht angeboren, sondern Erziehungssache. Die Eltern glauben ihnen und so wird aus Jürgen Alexandra. Auch im Dorf. Dem Kind erklärt man, dass "etwas falsch angewachsen sei." Alex denkt als Kind, dass es sich um einen ähnlich belanglosen Eingriff handle wie die Operation des elften Fingers seiner Großcousine.

Mit sieben Jahren findet Alex einen Mutter-Kind-Pass mit dem Namen Jürgen. Dazu seine Geburtsdaten. "Ich war davon überzeugt, dass ich einen Zwillingsbruder hatte, der verstorben war", erklärt Alex Jürgen heute gegenüber ze.tt. Da seine Eltern jedes Mal panisch oder still werden, wenn er nach Jürgen fragt, glaubt Alex bald ebenfalls schwer krank zu sein. Wie sein vermeintlicher Zwillingsbruder.

Später lernt Alex im Biologie-Unterricht, wie Geschlechtsorgane bei Männern und Frauen aussehen und funktionieren sollten. Auch die Periode und Tampons werden besprochen. Man solle es üben, bereits vor Beginn der Periode, sagen die Lehrer*innen. So setzt sich Alex zu Hause mit dem Bio-Buch und einem Tampon vor den Spiegel im Schlafzimmer der Eltern und versucht diesen einzuführen. Zuerst denkt Alex, dass das Jungfernhäutchen erst reißen müsse und es darum so blute. Doch es geht nicht rein. Irgendwann gibt er auf. Erst drei Tage später traut er sich, seine Mutter anzusprechen.

Sie weiß nicht recht, wie sie Alex, der damals noch Alexandra genannt wurde, erklären soll, dass er keine Vagina wie andere gleichaltrige Mädchen hat und vereinbart einen Arzttermin. Dort fragt der Arzt die Mutter: "Haben Sie Alexandra bereits alles erzählt?" Sie bejaht. Und so beginnt der Arzt von einer Hoden- und Penisentfernung zu sprechen, von der Alex noch nie gehört hat. Hoden? Penis? Das gehört doch zu einem Jungen. "Ich glaube, es war der Tag an dem ich abgeschlossen habe. Abgeschlossen mit vertrauen, abgeschlossen mit Selbstvertrauen. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wer ich war", erklärt Alex.

Ohne Möse wird das nie was, habe ich gedacht."

Alex versucht daraufhin sich besonders weiblich zu geben. Stopft sich die Schulterpolster der Mutter unter das T-Shirt, schminkt sich. "Niemand durfte je erfahren, dass ich ein Monster war. Ein Monster mitten im Klassenzimmer. Zum Ende der Pflichtschule war ich auch nicht zu bremsen, mir sofort eine künstliche Vagina anlegen zu lassen. Mit Jungen hatte ich schon geknutscht, aber alle wollten ständig mehr und in die Hose. Ohne Möse wird das nie was, habe ich gedacht", erzählt Alex. Diese Momente mit Jungs nennt Alex "Tintenfischalarm": Wenn ihre Hände nach unten wollen, Alex diese aber versucht abzuwehren, damit niemand das Geheimnis entdeckt.

Heroin als ein Ausweg

Nach der OP beginnt Alex ab 16 Jahren viel zu trinken und mit Männern im Ort zu schlafen. Auch wenn Alex dicke Einlagen tragen muss, da eine der Folgen der Vaginalplastik Inkontinenz ist und in der Nacht eine Art Prothese einführen muss, damit die Vagina offen bleibt. Nach einer Vergewaltigung beginnt Alex den eigenen Körper und die mittlerweile gewachsenen Brüste immer mehr zu hassen. Der Selbsthass ist einer der Gründe, warum er auf einem Festival etwas zu rauchen kauft. In einer Folie. Es ist Heroin. "Diese Droge konnte mit einem Schlag so viele meiner Bedürfnisse befriedigen. Ich fühlte diese wohlige Wärme. Ein Gefühl der Geborgenheit und vor allem, ich hörte auf, über mich selbst nachzudenken."

Erst als Alex mit 18 Jahren beim Trampen überlegt ein altes Ehepaar auszurauben, wird ihm bewusst, wie weit er gesunken ist. Er verkauft all seine Drogen und mit dem Geld ein Ticket in die Türkei. Ein All-inklusive-Ressort in Antalya wird der Ausweg aus den Drogen. Wieder zurück in Österreich und clean, macht Alex zum ersten Mal in seinem Leben positive Erfahrungen: beginnt mit Frauen zu schlafen und besucht eine Schule für angehende Pflegehelfer*innen. Alex verspürt zum ersten Mal so etwas wie Hoffnung.

Vier Monate vor dem Abschluss fühlt sich Alex immer schwächer. Kann plötzlich sein Leibgericht Schnitzel nicht mehr aufessen. Morgens ist ihm oft übel, er wird im Praktikum gehänselt, ob er schwanger sei. Dann bricht Alex zusammen. Ärtz*innen stellen fest, dass er an akuter Leukämie erkrankt ist. Chemotherapie. Der 20 Geburtstag im Krankenhaus. Alex geht es schnell besser. Er wird entlassen. Feiert sein Leben. Verfällt alten Mustern: Drogen und Partys.

In der Hölle angekommen

Am 1. Januar 1997 muss Alex wieder ins Spital. "Nach Wasser in der Lunge kam die künstliche Beatmung, danach das Koma und danach ein Multiorganversagen. 13 Wochen hatte ich geschlafen. In einem traumähnlichen Zustand, der nur mit einem Wort zu beschreiben ist: Hölle." Alex ist, als er aufwacht, wie betäubt. Hat aber viel Zeit zum Nachdenken. Ihm wird klar, dass sein Körper ihn verlassen wird, wenn er ihn weiterhin zu hasst. "Heute bin ich froh über den Krebs. Ja das klingt blöd, aber er hat mir eine zweite Chance im Leben ermöglicht", erzählt Alex.

Sein Neuanfang beginnt in der Reha im Schwarzwald. Dort erzählt er Menschen erstmals, wer er ist. Seine Geschichte. Über die unzähligen Operationen. Weder Mann noch Frau. Ja, etwas dazwischen. Jahre später hört Alex im Radio eine Diskussion zum Thema Schönheitsoperationen. Nicht jede*r legt sich freiwillig unters Messer, denkt sich Alex und will plötzlich seine Geschichte erzählen. Alex ruft an. Jahre später dreht er zusammen mit der FM4-Moderatorin Elisabeth Scharang den Film Tintenfischalarm. Mittlerweile nimmt Alex Testosteron und hat sich die Brüste entfernen lassen. Er fühlt sich mit den männlichen Hormonen aktiver und wohler. "Ich will keine Rolle mehr sein, ich will ich sein." Alex entscheidet sich auch für das männliche Pronomen.

Intergeschlechtlichkeit

Alex gilt als eine der ersten Personen, die sich in Österreich öffentlich als intergeschlechtlich geoutet hat. Liest man sich in das Thema ein, ist die Rede von "Krankheit", "Syndrom", "Operation" und "Angleichung". Dass es dabei um Menschen geht und nicht zwingend um eine Krankheit, wird ignoriert. Einen gesellschaftlichen Diskurs gibt es bisher so gut wie gar nicht. Die wenigsten Menschen wissen überhaupt, was die Begriffe "intergeschlechtlich" oder "intersexuell" bedeuten. Nach wie vor bleiben die Rollen verteilt. Auf jedem Formular, jeder Toilette, jedem Wettkampf wird zwischen Mann und Frau unterschieden. Und das obwohl schon vor Tausenden von Jahren ein römischer Dichter über Hermaphroditen schrieb und es später einen Zwitterparagrafen gab.

"Wenn ich raus auf die Straße gehe und zehn Menschen frage, was Intersex bedeutet, dann will ich, dass sie wissen, was es heißt", erklärt Alex sein Ziel. Als intergeschlechtlich beschreibt man jene Menschen, die sich hinsichtlich innerer und äußerer Geschlechtsorgane, Chromosomen und oder hormoneller Struktur nicht in die Kategorien männlich und weiblich einordnen lassen. Bezeichnungen gibt es mittlerweile einige. Selbst die Inter-Community ist sich über die korrekte Eingrenzung und Bezeichnung uneinig.

Um die 1,7 Prozent der Weltbevölkerung sind "auf die eine oder andere Weise intergeschlechtlich", heißt es in einem Statement der Plattform Intersex Österreich. Konkrete Zahlen gibt es weder in Deustchland noch in Österreich. Derzeit sollen schätzungsweise zwischen 80.000 und 120.000 intergeschlechtliche Menschen in Deutschland leben. Mutmaßlich kommt eines von 2.000 bis 5.000 Neugeborenen ohne eindeutiges Geschlecht zur Welt, in Deutschland betrifft das zirka 150 Neugeborene im Jahr.

Der österreichische Pass kennt nur zwei Geschlechter

Als Alex seinen Pass erneuern will, aber beim Geschlecht weder männlich noch weiblich ankreuzen kann, wird ihm klar, dass der Diskurs nicht nur in der Gesellschaft, sondern in der Gesetzgebung stattfinden muss. Daraufhin reicht er einen Antrag beim Landesverwaltungsgericht Oberösterreich auf ein drittes Geschlecht im Personenregister ein. Statt den beiden Auswahlmöglichkeiten soll es auch "inter", "anders" oder "x" geben. Sein Antrag wird mit der Begründung abgelehnt, dass die Gesamtrechtsordnung davon ausgehe, dass jeder Mensch entweder weiblich oder männlich ist.

Daraufhin reicht Alex Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) ein und feiert einen Etappensieg. Denn der VfGH schreibt in seinem Prüfungsbeschluss vom 14. März, dass es gegen den grundrechtlichen Schutz der Privatsphäre (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention) verstoßen könnte, wenn es nur die Möglichkeit gibt, das Geschlecht weiblich oder männlich anzugeben. Diese Bedenken werden nun geprüft. Es wäre nicht das erste Mal, dass Entscheidungen der Höchstgerichte in Österreich für Gleichberechtigung sorgen: 2015 wurde das Adoptionsverbot für Homosexuelle durch den VfGH aufgehoben, 2009 der Operationszwang bei Transsexuellen durch den Verwaltungsgerichtshof gekippt und im Jahr 2017 öffnet der VfGH die Ehe für alle.

Ein Kind braucht Liebe und Akzeptanz und keine Operation."

In Deutschland soll das dritte Geschlecht im Geburtsregister bis Ende 2018 kommen. Doch auch in Deutschland gibt es Aufholbedarf. Bereits seit 2007 existieren strenge Leitlinien für die Operationen an intergeschlechtlichen Kindern. Eine Studie der Humbold-Universität zeigt aber, dass die Anzahl der Operationen kaum gesunken ist. Auch wenn man Alex fragt, warum damals eigentlich ein Mädchen aus ihm gemacht wurde, dann lacht er und sagt nüchtern: "Weil es in den 80ern eben die einfachere Operation war." Auch heute passieren seiner Meinung nach noch viel zu viele Operationen, die eigentlich nicht nötig wären und intergeschlechtlichen Kindern die Chance nehmen, ihr Geschlecht einmal selbst zu bestimmen. Was würde er also Eltern raten, die ein intergeschlechtliches Kind bekommen? "Ein Kind braucht Liebe und Akzeptanz und keine Operation."

Mittlerweile wohnt Alex in einem kleinen Haus am Land. Zwischen Hühnern und seinen Hunden. Alle im Ort wissen Bescheid, niemand stört seine Intergeschlechtlichkeit. Alex ist einfach Alex. Ein Zwitter, wie eine Schnecke, wie er es dem Postboten erklärt hat. Sein Haus steht zwischen zwei Gemeinden. Alex geht darum gleich doppelt auf alle Dorffeiern. "Ich konnte mich nicht entscheiden. Wie schon mein ganzes Leben", sagt er und lacht.

*Alex Jürgen ist ein Pseudonym, das er in der Öffentlichkeit verwendet, um seine Familie zu schützen. Für das Personalpronomen "er" im Text hat sich der Protagonist selbst entschieden.

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