Kaum eine Netz-Geschichte war in den vergangenen Tagen so allgegenwärtig wie der Social-Media-Diss von Essena O’Neill. Trotzdem ein schneller Recap:Exposition

  • Bis vor kurzem hatte die 19-jährige Australierin all das, wovon viele Social-Media-Nasen träumen. Im Jahr 2015 bedeutet das: Einen Instagram-Account mit vielen Followern und einen trainierten Körper, den sie darauf zur Schau stellen konnte. Sie reiste viel und umgab sich mit hübschen Menschen – ein Traum.

Komplikation

  • Dennoch fühlte sie sich nicht wohl. Zuletzt hatte sie ihren Social-Media-fixierten Lifestyle zunehmend als Belastung empfunden, als großen Fake. Sie begann unter ihren Instagram-Fotos zu erklären, welche psychischen und physischen Verrenkungen die Motiven ihr abverlangt hatten.

Peripetie

  • Die Aktion rief Pöbler auf den Plan, Instagrammer aus aller Welt wetterten gegen O’Neill. Ihr Abgang wurde international diskutiert, alle stürzten sich darauf: Nachrichtenseiten, Modeblogs, auch wir.

Retardation

  • Besonders gehässig lästerten zwei Wegbegleiterinnen auf Youtube über ihre ehemalige Mitbewohnerin: Fake sei nicht das Leben der Instagram-Stars, sondern viel mehr O’Neills Ausstieg. Der sei doch ein noch größeres Aufmerksamkeitsgeheische, die Selbstinszenierung deluxe.

Katharsis

Die Geschichte ist wie gemacht für den Deutschunterricht

Das Social Web ist nicht das echte Leben: Such Erkenntnis, much tiefgründig, very neu? Nö – weder bei O’Neills Aufschrei gegen die Instagram-Welt noch beim Aufschrei der Instagram-Welt gegen O’Neill sind bahnbrechende Erkenntnisse herumgekommen. Die Diskussionen über Authentizität im Netz ist schal wie ein Asbach-Uralt, den Ausstieg aus der Aufmerksamkeitsökonomie haben auch schon alle Medien durchgekaut. Trotzdem spielt O’Neills Geschichte dieser Tage eine so große Rolle – warum bloß?

Die Antwort sollte Deutschlehrer aufhorchen lassen: Die Geschichte der Essena O’Neill lässt sich ohne Probleme in den Aufbau des Dramas nach Gustav Freytag einfassen.

Wer unseren Recap oben mit der Maus oder dem Finger markiert, wird merken, dass wir heimlich eine Gliederung eingefügt haben.

  • In der Exposition lernen wir eine Protagonistin kennen – jung und hübsch –, deren Glück mit jedem neuen Follower steigt. Gleichzeitig kündigt sich mit jedem Follower das Unglück an.
  • In der Katastase, dem erregenden Moment, wird der Heldin alles zu viel – sie beschließt den Ausstieg aus der Instagram-Welt.
  • In der Retardation der Geschichte fegt der Shitstorm über die Protagonistin hinweg.
  • Die Geschichte endet wie jedes Drama mit der Katharsis: der Läuterung der Hauptfigur, dem glücklichen Ende – oder: Essena O’Neill löscht ihre Profile. Sie löst sich vom Ballast ihres alten Lebens.

Wir haben uns so für Essena O’Neills Geschichte begeistert, weil sie beinahe zu schön ist, um wahr zu sein – eine Geschichte wie aus dem Lehrbuch: mit Böse und Gut, aufgesetztem Glamour und dem Wunsch nach Einfachheit. Wenn das nicht die perfekte Inszenierung ist. Wir wünschen uns künftig mehr Essena O’Neill im Deutschunterricht.