Das Cello ist das zentrale Element in der Geschichte der jüdischen Familie Lasker-Wallfisch. Denn das Cello rettete Anita Lasker-Wallfisch unter den Nationalsozialist*innen das Leben. 1943 wurden die heute 93-Jährige und ihre Schwester nach Auschwitz deportiert. Ihre Eltern waren im Jahr zuvor bereits ermordet worden. In Auschwitz spielte Lasker-Wallfisch im Mädchenorchester, unter anderem für den NS-Arzt Josef Mengele, und entging so dem Tod in der Gaskammer. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte Lasker-Wallfisch nach Großbritannien, wo sie das Londoner English Chamber Orchestra mitbegründete.

Das Cello ist auch der Grund, warum ihr Enkel Simon Wallfisch über 70 Jahre, nachdem seine Großmutter Deutschland verließ, die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt hat. Genauer gesagt das Cello und der Brexit. Simon Wallfisch ist wie seine Großmutter ein erfolgreicher Cellist geworden, außerdem arbeitet er als Bariton. Für Aufritte reist er durch ganz Europa, doch mit dem drohenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union könnte das schwierig werden. Im Dezember 2016 stellte er deshalb in der deutschen Botschaft in London einen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft, Ende Oktober 2018 konnte er seinen deutschen Pass abholen.

Seit dem Brexit-Votum hat sich die Zahl der Anträge auf die deutsche Staatsbürgerschaft in Großbritannien vervielfacht

Simon Wallfisch ist damit nicht allein: Seit dem Brexit-Votum hat sich die Zahl der Anträge auf die deutsche Staatsbürgerschaft in Großbritannien vervielfacht. Das geht aus einer Anfrage der FDP im Bundestag hervor. Demnach gingen seit 2016 insgesamt 3731 solcher Anträge bei deutschen Auslandsvertretungen in Großbritannien ein. 2015 waren es gerade einmal 59 Anträge. Der überwiegende Teil davon sei unter Berufung auf Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz gestellt worden. Dieser besagt: Überlebende des Holocausts, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen wurde, und ihre Nachkommen sind auf Antrag wieder einzubürgern.

Einen solchen Antrag auf Wiedereinbürgerung stellte auch die britische Schriftstellerin Eleanor Thom mit ihrer Mutter Betsy. Doch beide wurden abgelehnt. Thoms jüdische Großmutter Dora Tannenbaum floh 1939 aus Deutschland nach Schottland. 1942 heiratete sie den Briten Duncan Wilson, mit dem sie ein Jahr später Tochter Betsy bekam. Laut Ablehnungsbescheid hätte Betsy Thom jedoch nach dem 31. März 1953 geboren sein müssen, um heute Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft zu haben.

Von der deutschen Staatsbürgerschaft trennt Eleanor und Betsy Thom das Patriarchat

Nach heutiger Rechtslage erhält ein Kind mit der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn eines der beiden Elternteile deutsche*r Staatsbürger*in ist – egal ob die Mutter oder der Vater. Das war jedoch nicht immer so. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) von 1913 sah vor, dass der Vater die deutsche Staatsbürgerschaft haben musste. Demzufolge hätte Betsy Thom – auch ohne die Entrechtung ihrer Mutter durch die Nazis – keine deutsche Staatsbürgerin werden können: Ihr Vater Duncan Wilson war schließlich Brite. Erst im Jahr 1975 wurde in Deutschland diese patriarchale Regelung durch das Bundesverfassungsgericht geändert. Seither ist es für den Anspruch des Kindes unerheblich, ob der Vater oder die Mutter deutsche*r Staatsbürger*in ist.

Für viele der Altfälle fand der Bundestag, wie die taz berichtet, damals ebenfalls eine Lösung. So erhielten Kinder, die nach dem 31. März 1953 geboren wurden, ebenfalls Anspruch. Betsy Thom, die 1943 geboren wurde, kam damit zehn Jahre zu früh zur Welt. Zwar gebe es Möglichkeiten für Ausnahmen, sogenannte Ermessenseinbürgerungen, so das Bundesverwaltungsgericht gegenüber der taz. Diese Möglichkeit besteht allerdings erst für mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland, also dem 23. Mai 1949 und danach geborene Kinder. Ebenfalls zu spät für Betsy Thom. Der britischen Organisation Association of Jewish Refugees sind nach eigenen Angaben hundert ähnlich gelagerte Fälle bekannt. Die Mitglieder planen, rechtlich dagegen vorzugehen, um trotz des drohenden Brexit weiterhin frei in der EU reisen und arbeiten zu können.

Nicht Deutscher, nicht Brite, sondern Europäer

So wie Simon Wallfisch. Er fühlt sich trotz erfolgreich erworbener deutscher Staatsbürgerschaft nicht als Deutscher. Ohne den Brexit, so sagt er, hätte er diesen Entschluss nie gefasst. Nun hat er neben dem britischen auch den deutschen Pass – und bezeichnet sich selbst als Europäer.