Die meisten Menschen mit Vulva können vor, beim oder nach dem Sex abspritzen, genau wie Männer, und das schon immer, schreibt Stephanie Haerdle in ihrem Buch Spritzen. Darin beschäftigt sich die Kulturwissenschaftlerin mit der Geschichte des Squirting, der weiblichen Ejakulation – von der Antike bis ins 21. Jahrhundert.

Im Gespräch mit ze.tt erzählt Stephanie Haerdle, warum die weibliche Ejakulation ab dem 19. Jahrhundert tabuisiert wurde, räumt mit gängigen Missverständnissen über die Klitoris auf und beantwortet die eine Frage zur Ejakulation, die viele Menschen mit Vulva umtreibt: Pinkeln wir beim squirten?

ze.tt: Frau Haerdle, Squirting ist heute ein beliebtes Motiv in Pornos. Hat das Auswirkungen auf unser Sexleben?

Stephanie Haerdle: Ich habe mit jungen Frauen gesprochen, deren männliche Partner das Squirten aus

Pornos kennen. Die sind total überrascht, wenn ihre Freundin das nicht macht und fragen sich dann, ob es ihr überhaupt gefallen hat, ob sie etwas falsch gemacht haben. Sie denken, Squirten muss dazugehören. Das ist total absurd.

Die Form und Größe der Prostata von Menschen mit Vulva variiert erheblich und es gibt auch Frauen, bei denen keine Prostata nachgewiesen werden kann. Die unterschiedliche Ausprägung des Drüsengewebes könnte eine Erklärung dafür sein, dass nicht alle Menschen mit Vulva ejakulieren. Hier muss noch weitergeforscht werden.

Mir geht es nicht darum, dass jede Frau ejakulieren sollte, mir geht es darum, dass wir wieder wissen, dass auch Menschen mit Vulva ejakulieren können. Diese Idee, dass Frauen spritzen müssen, weil sie sonst nicht gut im Bett sind, ist gefährlich. Wir brauchen nicht noch mehr Druck beim Sex. Im Gegenteil, es braucht Entspannung, Information und vor allem ein bisschen mehr Humor. Wie sollten keine neuen Leistungsvorstellungen in die Welt setzen, sondern uns fragen, wie wir uns heute sexuell begegnen könnten. Dazu wollte ich mit meinem Buch anregen.

Viele Frauen schämen sich, wenn sie ejakulieren, weil sie glauben, dass sie dabei pinkeln. Stimmt das denn?

Neuere Forschungen schlagen vor, beim Spritzen zwischen zwei Flüssigkeiten zu unterscheiden. Das eine ist das Ejakulat, eine weißliche, dickflüssige Flüssigkeit aus der Prostata mit typischen Prostatamarkern wie dem prostataspezifischen Antigen, die viele Frauen eher herauspressen. Das sind oft einige wenige Tropfen.

Wir werden dazu erzogen, Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen eklig zu finden
Stephanie Haerdle

Das andere ist die Squirtingflüssigkeit. Bevor Frauen spritzen, kann es sich so anfühlen, als müssten sie aufs Klo. Wenn sie dann kommen, können das Mengen von 60, 70 oder bis zu 120 Millilitern, sogar mehr, sein. Es gibt Frauen, die beschreiben, dass sie im Anschluss das Bett neu beziehen. In Pornos wird diese Squirtingflüssigkeit gerne sehr theatralisch in Szene gesetzt. Sie kommt aus der Blase, enthält Harnstoff, Harnsäure und Kreatinin, unterscheidet sich aber von Urin.

Wenn die Flüssigkeit aus der Blase kommt: Ist die Harnröhre dann auch ein Sexualorgan?

Ja, Harnröhre, Klitorisschwellkörper und die Vagina sind eng miteinander verbunden. Wir sollten sie als ein gemeinsam agierendes und reagierendes Geschlechtsteil verstehen. Über die obere Vaginalwand können beispielsweise die Harnröhre, die Prostata und die Klitoris stimuliert werden. Die Schwellkörper der Klitoris reiten gewissermaßen die Vagina. Da geht es um Erregung, Lust.

Trotzdem ist das Thema vielen Menschen unangenehm. Warum?

Wir werden in dieser Gesellschaft dazu erzogen, Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen eklig zu finden. Vaginaler Ausfluss ist da so ein Beispiel. Gerade junge Mädchen schämen sich dafür. Es ist ihnen peinlich, wenn sie in der dunklen Unterhose mal einen hellen Fleck finden. Manche tragen deshalb sogar täglich Slipeinlagen. Menstruationsblut wird auch von vielen als unangenehm wahrgenommen. Wir sollten da entspannter werden.

Wie könnte das gehen?

In meinem Buch stelle ich Annie Sprinkle vor, feministische Ejakulationskönigin und bekennende Ökosexuelle, die das Feuchte schon im Künstlerinnennamen trägt. Sie ist seit den 80ern als Performancekünstlerin aktiv. Sie fragte, warum es denn überhaupt ein Problem sein sollte, wenn sie beim Sex mal pinkelt. Für Annie Sprinkle sind das alles wunderbare Körperflüssigkeiten. Die gilt es zu feiern, egal, ob es sich um Ejakulat, Squirtingflüssigkeit oder eben Urin handelt.

Diese entspannte und körperbejahende Haltung gefällt mir. Ich fürchte nur, dass wir davon noch weit entfernt sind. Mädchen und Frauen wird vermittelt, sie sollen haarlos sein, kontrolliert, schlank, sportlich, fit. Kein Schweißfleck, kein Blutfleck sichtbar am blitzblanken, getrimmten Körper. Flüssigkeiten, die unkontrolliert aus uns herausschießen oder -laufen, passen da nicht ins Bild. Sie machen uns Angst. Das ist schade.

Die weibliche Ejakulation hat für viele immer noch etwas Mystisches, obwohl es inzwischen Informationsmaterial zu dem Thema gibt. Warum bleibt das Allgemeinwissen zu dem Thema so begrenzt?

Es ist deprimierend und macht mich wütend. Petra Benz vom feministischen Frauengesundheitszentrum Berlin meinte zu mir, jede Generation fange bei dem Thema wieder von vorne an. Frauengesundheit und das Wissen über weibliche Anatomie und weibliche Lust werden besonders leicht und schnell vergessen. Das liegt auch daran, dass sie im Medizinstudium nicht im Curriculum stehen. In den anatomischen, gynäkologischen oder urologischen Lehrbüchern lässt sich beispielsweise kaum etwas finden zur weiblichen Prostata oder über die weibliche Ejakulation.

Bei der Klitoris wird langsam aufgeholt. Viele Menschen wissen inzwischen, dass die eigentlich sehr groß ist und eben nicht nur dieser kleine, sichtbare Knubbel vorne, wie sie lange dargestellt wurde. Der geht nämlich über in einen Körper und dann in die Klitorisschenkel und in die Schwellkörper. Allein die Schenkel können bis zu zehn, die Vorhofschwellkörper bis zu sieben Zentimeter lang sein.

Haben Sie sich deshalb dazu entschlossen, ein Buch darüber zu schreiben?

Ich selbst wusste sehr lange gar nichts über spritzende Frauen. Dabei reicht die Geschichte der weiblichen Ejakulation, also die Zeit, in der sie ein ganz selbstverständlicher Teil weiblicher Lust war, wahnsinnig weit zurück. Die ältesten Texte, die ich gefunden habe, sind aus China und über 2.200 Jahre alt. Es hat sie immer gegeben. Trotzdem verschwand sie irgendwann aus der öffentlichen Wahrnehmung. Ärzte bestritten ihre Existenz, das Wissen um Prostata und Ejakulation ging verloren. Ich wollte herausfinden, mit welcher ideologischen Begründung das geschah. In welchen Kontexten war sie sicht- und unsichtbar? Daran lässt sich ablesen, wie es um die weibliche Sexualität, Erotik und Lust in der jeweiligen Zeit stand.

Warum klären chinesische Sexhandbücher von vor mehr als 2.000 Jahren offenbar besser auf als europäische Literatur zu dem Thema aus dem 20. Jahrhundert?

In den Texten, die ich aus dem alten China las, spielten Erotik und Lust der Frau eine entscheidende Rolle. Es ging darum, das Begehren der Frau zu wecken und gemeinsam Lust zu erleben. In zwei alten Texten, die ich mir genauer anschaute, wird beispielsweise sehr detailliert erklärt, welche Zeichen von Erregung ein Mann am Körper seiner Partnerin erkennen muss, bevor es um Penetration geht. Es wird beschrieben, wie ihre Zunge schlüpfrig und besonders nass werden muss, wie die Brustnippel sich erhärten und das Becken sich vom Boden hebt, sie rote Wangen bekommt und schneller atmet. Diese Texte zeigen ein ganz anderes Verständnis von Sexualität und Erotik.

Wie stand es um die weibliche Ejakulation in der Antike?

In der griechisch-römischen Antike wurde die Ejakulation meist im Zusammenhang mit Fortpflanzung beschrieben und erklärt. Es ging in erster Linie darum, wie Frauen schwanger werden können. Anhänger*innen der Ein-Samen-Theorie, wie Aristoteles einer war, glaubten, dass sich der Embryo im Körper der Frau aus dem männlichen Samen und dem Menstruationsblut bildet.

Eine andere gängige Theorie war die Zwei-Samen-Theorie, nach der die Frau durch ein Zusammenspiel zweier Säfte, des männlichen und des weiblichen Samens, schwanger wurde. Die Vorstellung eines zeugenden weiblichen Samens war auch in europäischen, indischen oder arabischen Texten des Mittelalters allgegenwärtig. Diese Texte sind zum Beispiel voller Rezepte und therapeutischer Maßnahmen gegen weiblichen Samenstau. Geraten wurde zum Verzicht auf erhitzende Speisen und Alkohol, aber auch zur Ehe oder zur Masturbation.

Weiblicher Orgasmus und Fortpflanzung gehörten also lange zusammen?

Ja. Erst Ende des 19. Jahrhunderts verstanden Wissenschaftler langsam den weiblichen Zyklus. Mediziner dachten bis dahin, dass der Eisprung der Frau durch einen Orgasmus ausgelöst wird, so wie das auch bei manchen Säugetieren der Fall ist. Damit war sehr klar gewesen: Die Frau musste beim Sex zum Orgasmus kommen. Nur dann konnte sie schwanger werden.

Was bedeutete das neue Verständnis von Empfängnis für den weiblichen Orgasmus?

Der spielte ab 1900 kaum noch eine Rolle. Frauenkörper wurden zu etwas Passivem, sie wurden jetzt vom aktiven Mann "befruchtet". Es wurde sogar gefragt, ob Frauen nicht von Natur aus eigentlich alle frigide seien. Die bürgerliche, tugendhafte Frau, die damals dem Idealbild entsprach, hatte bestenfalls keinen Geschlechtstrieb.

Spritzen passte nicht in die Idealvorstellung der bürgerlichen Frau.
Stephanie Haerdle

Gleichzeitig wurden auch die Geschlechterrollen im 19. Jahrhundert immer enger und binärer definiert. Es wurden abstruse Theorien erfunden, um Frauen abzuwerten. In einem Text aus dieser Zeit wurde beispielsweise die Tatsache, dass das Geschlechtsorgan der Frau, die Vulvalippen, nicht in sich geschlossen sei wie der Penis, als Beweis dafür herangezogen, dass Frauen unfertig und mangelhaft seien. Der herausragende Penis war Zeichen dafür, dass der Mann in die Welt gehörte, während die im Körperinneren liegende Vagina verdeutlichte, dass Frauen nach Hause an den Herd gehörten. Die Frau wurde zum ganz anderen, zum schwächeren Geschlecht, zur empfangenden Person, während der Mann als aktiv, in der Welt handelnd, gestaltend und expressiv galt, im Alltag wie beim Sex.

Und wie wurde die weibliche Ejakulation von da an bewertet?

Dieses Spritzen hat ja auch etwas sehr Expressives. Das passte überhaupt nicht mehr in die Idealvorstellung der bürgerlichen Frau. Nach 1900 und bis weit in die 60er-Jahre hinein wurden weibliche Flüssigkeiten deshalb pathologisiert. Ab da galt die Annahme: Wenn eine Frau diese Säfte absondert, muss etwas mit ihr nicht stimmen. Vielleicht hat sie eine Beckenbodenschwäche, vielleicht ist sie inkontinent, oder aber sie ist zu lustvoll. Eine anständige Frau konnte keine lustvoll spritzende Frau sein.

Nachdem sie Jahrzehntelang aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war, erlebte die weibliche Ejakulation in den 70er-Jahren ein Revival. Wie kam es dazu?

Ende der 70er-Jahre veröffentlichten die US-Amerikaner*innen Josephine Lowndes Sevely und J. W. Bennett im Journal of Sex Research einen Aufsatz über Ejakulation und Prostata der Frau, der für großes Aufsehen sorgte. Sie bestätigten, dass es die weibliche Ejakulation schon immer gegeben hat und sie nur ignoriert wurde, weil sie im 20. Jahrhundert nicht zum vorherrschenden Bild von Weiblichkeit und Frausein gepasst hat. Das war der Startschuss für einige Forschungsprojekte.

Mir geht es nicht darum, dass jede Frau ejakulieren sollte. Mir geht es darum, dass wir wieder wissen, dass auch Menschen mit Vulva ejakulieren können.
Stephanie Haerdle

Auch die feministische Frauengesundheitsbewegung beschäftigte sich ab den 70ern mit dem Thema und zeigte in ihrem Standardwerk Frauenkörper – neu gesehen einen Text und eine schöne Zeichnung zur Ejakulation, die in der deutschen Ausgabe übrigens als "Freudenfluss" bezeichnet wurde. Anfang der 80er-Jahre veröffentlichten Alice Kahn Ladas, Beverly Whipple und John D. Perry außerdem ihr Buch Der G-Punkt – das stärkste erotische Zentrum der Frauen. Ein populärwissenschaftlicher Weltbestseller, der sich mit der weiblichen Ejakulation auseinandersetzte. Damit war das Thema gesetzt.

Haben Sie trotzdem das Gefühl, wir sind auf dem Weg in eine sexpositivere und aufgeklärtere Zukunft?

In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von Büchern erschienen, die sich mit der Vagina, der Vulva und der Menstruation beschäftigen. Es gibt einige tolle Sexpodcasts und -blogs. Das ist großartig. Gerade junge Menschen interessieren sich wieder für diese Themen. Auch die Vulva-Watching-Kurse der 70er-Jahre gibt es heute wieder. Dabei setzen sich Menschen zusammen und schauen einfach mal, wie das Ganze zwischen den Beinen ausschaut. Im Netz gibt es Vulvengalerien, die über die Vielfalt der Vulva informieren, es gibt Aktivist*innen, die sich für Aufklärung und Information rund um die Klitoris, für die Enttabuisierung der Menstruation, für geschlechtliche Vielfalt einsetzen.

Diese Angebote können helfen, die Angst und das Schamgefühl, bezüglich des eigenen Körpers abzubauen. Trotzdem zeigen zum Beispiel die Zunahme von Schönheitsoperationen auch bei jungen Menschen oder die Häufigkeit von Essstörungen, dass es einen enormen Druck gibt, wie wir auszusehen haben. Wir brauchen viel mehr Forschung und Information rund um das Genitale und die Lust von Menschen mit Vulva. Und mehr Gelassenheit, was unsere Körper angeht.