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Warnung: Im nachfolgenden Text wird physische Gewalt thematisiert. Das kann für einige Leser*innen emotional belastend sein und eine triggernde Wirkung haben.

Amie Dibba, 25, aus Gambia war erst fünf Jahre alt, als ihre Klitoris abgeschnitten wurde. Ihre Mutter hatte ihr eine Party versprochen – eine traditionelle Feier mit Süßigkeiten, Musik, Tanz und neuen Anziehsachen, extra für junge Mädchen wie Amie. Die kleine Amie war begeistert. Klar wollte sie Süßigkeiten. Sie freute sich darauf.

Aber als sie dort ankam, gab es keine Süßigkeiten. Es gab auch keine Musik und keinen Tanz. Stattdessen brachte ihre Mutter sie in ein kleines Zelt. Dort warteten zwei Frauen auf sie. Die ältere hatte traditionelle Kleidung an, die andere, eine großgewachsene Frau, zwang Amie, sich auf den Boden zu legen. Sie wickelte einen Schal um ihren Kopf, und stopfte Bananen in ihren Mund. Amie sollte nicht sehen, was um sie herum geschah. Und schreien sollte sie auch nicht.

"Öffne deine Beine"

Wenig später hörte sie nur noch Stimmen: "Du musst es tun, du kannst mit diesem Ding zwischen deinen Beinen nicht sauber sein und wirst nie einen Mann heiraten, öffne einfach deine Beine!" Eine weitere Stimme rief: "Deine Mutter und zig andere Generationen haben das auch mitgemacht." Amie spürte, wie nun insgesamt drei Frauen ihre Hände hielten und ihre Beine auseinanderdrückten, während die Nyansiba (in der örtlichen Sprache Mandinka: die Beschneiderin) anfing, sie zu verstümmeln.

Noch heute kann Amie sich an die fürchterlichen Schmerzen erinnern. Sie sind damals in ihrem Hals stecken geblieben, als sie versuchte, zu schreien.

Zwanzig Jahre später sitzt Amie in ihrer kleinen WG in Berlin und versucht, sich an diesen Tag zu erinnern: "Ich habe immer noch keine Idee, womit meine Klitoris abgeschnitten wurde, ein Messer oder eine Rasierklinge, ich weiß es einfach nicht."

Sie ist vor drei Jahren nach Berlin gekommen, nachdem sie aus ihrer Zwangsehe geflüchtet war. Sie hat eine lange und beschwerliche Reise hinter sich; aus dem kleinen westafrikanischen Land Gambia über Mali, Libyen, Italien kam sie schließlich nach Deutschland.

Genitalverstümmelung soll im Sinne der Mädchen selbst sein

Die traditionellen Glaubenssätze rund um weibliche Genitalverstümmelung in Afrika sind sehr unterschiedlich. Sie wird von vielen Gemeinschaften praktiziert und von Eltern unterstützt, da sie die Interessen der Mädchen selbst im Sinne haben soll. Trotz der physischen und psychischen Folgen.

In Gambia, Amies Heimatland, aber auch in anderen Teilen von Sub-Sahara Afrika, wie Somalia, Eritrea und Sudan, werden die sogenannten Typen zwei und drei der Genitalverstümmelung praktiziert. Das beinhaltet die Infibulation, die fast vollständige Schließung der vaginalen Öffnung durch die Vulvalippen, die so geschnitten und vernäht werden, dass nur noch eine kleine Öffnung bleibt, damit Urin und Menstruationsblut abfließen können.

Viele Beschneiderinnen geben auch an, das Blut der Mädchen mit Kräutern zu vermengen, um damit die Vulva zu schließen. Dadurch soll Penetration und eine ungewollte Schwangerschaft vor der Hochzeit vermieden werden.

"Ich wurde erst beschnitten und dann verschlossen, und dann noch einmal beschnitten, als ich 15 Jahre war", berichtet Amie. An ihrem Hochzeitstag wurde sie dann von ihrem Mann penetriert. Um ihre Jungfräulichkeit unter Beweis zu stellen.

Viel Schmerz

Die meisten, wenn nicht sogar alle traditionellen Beschneiderinnen haben keine medizinische Ausbildung. Sie nutzen traditionelle Methoden, die über Generationen überliefert wurden. So sterben auch immer wieder Mädchen während der Verstümmelung oder haben mit schwerwiegenden Gesundheitsproblemen zu kämpfen.

Genau wie Amie, die sagt, sie habe große Schwierigkeiten beim Sex. Sie leidet daneben an starken Krämpfen während der Regelblutung, an Depressionen und ist traumatisiert.

Eine aktuelle Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt, dass weibliche Genitalverstümmelung überhaupt keine Vorteile bietet, sondern ausschließlich zu vielfältigen Formen des Leids führt. Chronische Genitalinfektionen, Schmerzen während der Regelblutung, psychische und sexuelle Probleme und Schwierigkeiten bei einer Geburt.

Amie erinnert sich, wie sie nach der Verstümmelung kaum urinieren konnte. Sie und die anderen frischbeschnittenen Mädchen durften sich tagelang nicht waschen, um Infektionen zu vermeiden. "Nach jeder Verstümmelung wird eine Gruppe Mädchen in einen Raum gebracht und soll sich dort für etwa drei Monate aufhalten. Wir waren ungefähr 50 Mädchen zwischen drei und zehn Jahren", sagt Amie. Ihre Wunden wurden mit traditionellen Tinkturen aus grünem Tee, Tomatenpaste und geriebenen Hölzern behandelt.

Erst wenn die Wunden verheilt sind, finden die Feierlichkeiten für die Mädchen statt. Einige Tage vor der Feier für Amie bemerkte eine Frau, die die Kintago genannt wird ("die Beschnittene"), dass Amies Klitoris nicht vollständig entfernt worden war. Sie sollte erneut beschnitten werden. Aber Amie weigerte sich.

Weibliche Genitalverstümmelung wird weltweit praktiziert

Zehn Jahre später – da war Amie 15 Jahre alt – wurde sie aus der Schule genommen und verheiratet. In dieser Ehe bekam sie zwei Kinder. Sie verspürte nie Freude, während sie Sex hatte. Amie schüttelt traurig den Kopf, wenn sie darüber spricht: "Wenn man Schmerzen beim Sex hat ist das so, dass man sich wünscht, ihn nie zu haben. Die lustvollste Stelle meiner Genitalien wurde abgeschnitten."Nach der WHO, die weibliche Genitalverstümmelung als internationale Menschenrechtsverletzung anerkennt, sind weltweit 100 Millionen Frauen betroffen, und drei Millionen Kinder sind jährlich davon bedroht.

Auch in Deutschland betrifft das Thema immer mehr Mädchen und Frauen: Nach einer Studie der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes wurden bereits 65.000 in Deutschland lebende Frauen und Mädchen verstümmelt.

Meistens sind es Eltern aus afrikanischen Ländern, die ihre Töchter in den Sommermonaten in ihre Heimatländer mit zurücknehmen, damit sie dort beschnitten werden können. Und obwohl auch Gambia viele Gesetze hat, die sowohl Genitalverstümmelung als auch Kinderehen verbieten, gibt es erst seit 2015 ein Gesetz, welches diese Verbrechen auch unter Strafe stellt.

Bis zum Jahr 2013, berichtet UNICEF, haben 24 afrikanische Länder Gesetze gegen weibliche Genitalverstümmelung erlassen. Länder wie Mali, Liberia und Sierra Leone haben allerdings keine entsprechende Gesetzgebung. Und auch trotz des offiziellen Verbots wird in Ländern wie Gambia, Eritrea und Sudan die Verstümmelung weiter praktiziert.

Mit den Schmerzen leben

Wenn sie, die große, Schwarze, zweifache Mutter Amie heute auf ihre Reise zurückblickt, beschreibt sie ihre Ankunft in Berlin als Start des Verarbeitungsprozesses. Sie hofft, dass Genitalverstümmelung und Zwangsehen überall auf der Welt gesetzlich verboten werden.

"Traditionen sind Traditionen und müssen angenommen werden, aber solche schädlichen Traditionen sollten gesetzlich bestraft werden. Und diejenigen, die dagegen verstoßen, müssen zur Rechenschaft gezogen werden", erklärt Amie, "nur Mädchen selbst sollten entscheiden können, was mit ihren Körpern gemacht wird." Sex sollte Freude machen, sagt sie, unsere Klitoris sind wichtig.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert