Liebes Weihnachten,

es ist noch nicht allzu lange her, da saß ich auf der Treppe im Flur neben meinen Geschwistern und wartete auf dich. Mein kleiner Körper bebte, mich schien die Vorfreude auf dich fast zu zerreißen. Jedes Geräusch im Wohnzimmer glich für mich einem Wunder. Schließlich war es das Christkind, das dort gerade umherflog, die Geschenke arrangierte, den Baum schmückte und am Ende die Glocke läutete. Ihr schrilles Geräusch höre ich noch heute, wenn ich an dich denke und sehe dich vor meinem inneren Augen mit der silbernen Glocke mit den Schneeflocken darauf bimmeln.

Mittlerweile bin ich aus der Kirche ausgetreten und weiß, dass kein Christkind durch unser Wohnzimmer schwebt, sondern meine Mama, aber auch dadurch hat sich für mich nichts verändert. Geburtstage, Silvester oder Ostern sind auch ganz nett, aber einfach nicht vergleichbar mit dir. Ja, liebes Weihnachten, ich spreche von dir.

Fällt im November der erste Schnee, denke ich schon an dich. Auch beim ersten Glühwein und Lebkuchen gehören meine Gedanken dir. Die Tage bis zum großen Abend verbringe ich mit akribischer Planung. Ich organisere alle Geschenke, mein Outfit und verbringe die Abende in Dauerschleife mit Filmen wie Tatsächlich … Liebe, allen Teilen von Bridget Jones und Harry Potter.

Kennengelernt habe ich natürlich auch deine nervigen Seiten, wie: dass es in den überladenen Tagen zu Streitereien in der Familie kommen muss oder man von Keksen, Braten und Kuchen gleich mehrere Kilo zunimmt, die man das ganze Jahr nicht mehr los wird. Ich will dir trotzdem etwas sagen, ganz ernst und ohne Sarkasmus:

Für mich bist du das Größte, ja, der schönste Tag des ganzen Jahres!"

In den tristen Tagen vor Weihnachten in diesem gottverdammt grauen Berlin, in dem alle noch einen Tick gestresster und unfreundlicher scheinen als sonst, setze ich meine Kopfhörer auf, höre Weihnachtssongs und freue mich auf dich. Und denke mir: Wie traurig für alle, die noch keine Vorfreude verspüren. Denn ganz egal, wie mein Dezember verläuft, irgendwie ist jeder Tag schöner – einfach weil bald Weihnachten ist.

Ja, es fühlt sich jedes Jahr wieder an, wie frisch verliebt zu sein, oder zumindest jeden Tag die perfekte Frisur zu haben. Schneit es dann noch, werde ich richtig sentimental.

Wann bist du nur uncool geworden?

Diese Liebe teilen aber längst nicht alle um mich herum mit mir. Nein, ich beobachte einen besorgniserregenden Trend: Egal, mit wem ich spreche, ob Freund*innen oder Kolleg*innen, alle sind genervt und schlecht drauf und geben dir dafür die Schuld. Sie jammern, was das Zeug hält: Jahresabschluss, Silvester, Geschenke, Freund*innen treffen … bla bla. Auf meine Vorfreude reagieren sie überrascht.

Währenddessen frage ich mich, wann bist du für sie nur uncool geworden? Alle besorgen am letzten Tag die Geschenke, beschweren sich davor 23 Tage lang über den verdammten Advent und am Weihnachtsabend über den Stress. Darum, liebes Weihnachten, hör ihnen einfach nicht zu. Lass sie haten, sie wären auch ohne dich deprimiert. Du bist perfekt – und zwar genauso, wie du bist.

Du bleibst immer gleich – und das ist gut so

Andere dürfen mich gerne spießig oder gar konservativ nennen, aber ich liebe es, dass sich an unserer Beziehung so gar nichts verändert. Egal, wohin ich ziehe oder was ich mache, du bleibst jedes Jahr gleich. Für mich bedeutet das vor allem eines: Zeit für meine Familie.

Und auch wenn ich spätestens am 25. Dezember kurz vor dem mentalen Supergau stehe, da es ja doch unglaublich anstrengend ist, die ganze Familie ständig um sich zu haben, ist es das einzige Fest, an dem wirklich alle bei uns in der Familie nach Hause kommen. Alle schlafen in ihren alten Kinderzimmern und eigentlich ist alles wie früher, nur dass jetzt eben Kinder, Partner*innen oder ein Hund mit im Bett liegen.

Für mich bist du das Gefühl des Nachhausekommens und auch ein Stück weit des Zurückkommens."

Ich kann mir dafür keinen schöneren Ort vorstellen als mein Elternhaus in einem Dorf in Österreich.

Alle Jahre wieder

Abgesehen davon, dass ich nun nicht mehr auf den Stufen im Flur auf das Christkind warte, sondern den Baum selbst schmücke, wird an den weihnachtlichen Traditionen nicht gerüttelt. Abends gibt es zuerst Lachs und später Bratwürste. Verwandte werden in exakter Reihenfolge besucht, währenddessen wird hemmungslos geschlemmt. Unter dem Baum zur Bescherung werden dann Lieder gesungen und Texte gelesen. Jedes Jahr suchen wir die Liedtexte für die zweiten Strophen – nie finden wir sie. Jedes Jahr will meine Schwester noch einen Text aus dem Testament vorlesen und niemand will mehr zuhören. Doch mir geht es nicht um die Lieder oder die Texte, sondern um die Tradition und dass wir dein Fest alle zusammen erleben.

Die Rituale, die wir als Kinder erleben, können unsere Entwicklung ein Leben lang beeinflussen, das sagen auch Forscher*innen. Nimmt man zum Beispiel das Singen: "Wir versetzen uns damit schon rein körperlich in einen Zustand, der viel stärker mit positiven als mit negativen Gefühlen und Erinnerungen verbunden ist", erklärt Musikwissenschaftler Gunter Kreutz von der Universität Oldenburg. "Dazu kommt natürlich die Gemeinschaft mit anderen Menschen."

Mir ist klar, dass nicht alle so viel Glück mit der eigenen Familie haben wie ich. Du, liebes Weihnachten, erinnerst uns aber daran, sich Zeit für die wichtigen Menschen im Leben zu nehmen – das kann jede*r sein. Es tut gut, den ganzen verdammten Hass des Jahres für einen Tag einfach mal nicht reinzulassen. Ich weiß, es klingt alles ziemlich kitschig, was ich dir hier schreibe, aber es ist nun mal Weihnachten, und da darf man dick auftragen. Sollen sie drüber lachen, sollen sie dich haten, mir ist's egal. Denn ich bin voller Vorfreude, gedanklich längst unter dem Weihnachtsbaum und warte auf dich. Derweil glitzerst du jetzt schon so schön, duftest so wunderbar und schmeckst so gut nach Zimt, liebes Weihnachten. Bald ist es so weit.

Ich kann es kaum erwarten, komm bitte schnell!