Vor ein paar Jahren half ich bei einer Turngala in meinem Heimatort aus. Ich betreute eine Mädchenmannschaft im Grundschulalter und unterhielt mich gerade mit einer der Mütter, als ich eine grauhaarige Frau auf der Tribüne entdeckte, die behutsam seitwärts die Treppe hinunter stieg, ein Fuß nach dem anderen. Unsere Blicke trafen sich, sie winkte mir zu. Die Mutter der Turnerin lächelte, "Isch des die Oma?" Ich schüttelte den Kopf. "Die Mama." Ich war damals Anfang 20.

Ich bin eines von Tausenden spätgeborenen Kindern in Deutschland. Meine Mutter war 39 bei meiner Geburt, mein Vater sogar über 40. Eine Schwangerschaft in diesem Alter gilt in Deutschland als Risiko. Genauer gesagt, jede Schwangerschaft ab Ü35. Und trotzdem bringen Tausende Frauen über 35, über 40 und sogar ein paar über 50 Jahre jedes Jahr Kinder zur Welt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der Spätgebärenden seit dem Jahr 2000 kontinuierlich gestiegen.

Klar, gewisse Risiken bestehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit einem Chromosomenfehler oder einer Behinderung zur Welt kommt, nimmt mit dem Alter der Mutter zu. Dass ich körperlich und geistig gesund zur Welt gekommen bin, scheint also ein Glücksfall gewesen zu sein. Aber was ist mit den sozialen Nachteilen? Hatte ich es als Kind schlechter, weil ich alte Eltern habe?

Meine Eltern haben sich ihre Träume erfüllt und den größten zum Schluss: ein Kind

Meine Eltern haben viel gesehen von der Welt: Sie haben viele Jahre im Ausland gelebt und gearbeitet, unter anderem in Asien. Sie haben einen Roadtrip durch die USA gemacht, sind mit der Transsib durch Russland gereist. Sie sind Sportwagen gefahren, haben Jobs gekündigt, die ihnen keine Freude bereitet haben und sind finanzielle Risiken eingegangen – kurz gesagt: Sie konnten ihr Leben lang ihre Zeit ganz nach ihren Vorstellungen gestalten. Sie haben sich ihre Träume erfüllt und den größten zum Schluss: ein eigenes Kind zu bekommen.

Als ich geboren wurde, waren meine Eltern bereits seit 20 Jahren verheiratet. Ihre Ehe hatte die Feuerprobe bestanden und sicherlich viele Krisen gemeistert. Sie wussten, dass sie sich immer aufeinander verlassen können. Bei uns zu Hause wurde nie über Geld gestritten, denn es war immer genug da. Hätten meine Eltern mich mit Anfang 20 bekommen, wäre die finanzielle Situation gewiss sehr viel prekärer gewesen. So war es bei einigen meiner Klassenkamerad*innen, deren Mütter ihre Ausbildung oder ihr Studium nicht abschließen konnten, weil sie sehr jung schwanger wurden.

Dass meine Familie anders ist als die Familien meiner Freund*innen, war mir früh bewusst. Bei meinen Klassenkamerad*innen zu Hause liefen Lieder von Queen, Abba oder Bon Jovi – Musik, die ihre Eltern in ihrer Jugend gerne gehört hatten. Bei uns liefen die Beatles, Roy Orbison und Heintje. Während andere Kinder in meinem Alter mit ihren Müttern GZSZ oder Marienhof schauten, sah ich mir mit meiner Mutter die 200. Wiederholung von Mit Schirm, Charme und Melone und Bezaubernde Jeannie an.

Meine Weltanschauung und die meiner Mutter klaffen sehr auseinander

Natürlich war nicht immer alles rosig. Nicht selten bin ich mit meiner Mutter aneinander geraten, weil unsere Weltanschauungen zu sehr auseinander klafften. Meine Mutter wuchs in den 50ern auf, einer Zeit, in der es sich nicht geziemt hat, dass Mädchen auffallen. Noch heute hält sie zu großen Teilen an diesem Rollenbild fest und schämt sich oft für ihre aufmüpfige und rebellische Tochter. Mich dagegen hat es gestört, als mein Klassenkamerad mit 17 von der 40. Geburtstagsfeier seiner Mutter erzählte. Oder wenn meine Freundinnen davon schwärmten, dass die Mutter einer Klassenkameradin bei einer Geburtstagsparty in Stöckelschuhen Seil gesprungen war. Meine Mutter hatte ja manchmal schon Mühe vom Sofa aufzustehen, wenn sie zu lange gesessen hatte. Ich gebe zu, dass ich mir oft wünsche, dass sie körperlich in besserer Verfassung wäre.

Dass es durchaus seine Nachteile hat, Kind alter Eltern zu sein, musste ich auch während eines Auslandsaufenthalts vor ein paar Jahren feststellen. Damals erkrankte mein Vater schwer an einem Infekt und lag wochenlang im Krankenhaus. Am meisten zu schaffen machte mir die plötzliche Erkenntnis, dass mein Vater gebrechlicher war, als ich es mir vorher eingestehen wollte. Die Ärzt*innen betonten immer wieder, dass wir uns aufgrund seines Alters auf das Schlimmste einstellen müssten.

Ich fühlte mich hilflos, überfordert und viel zu jung, um mich mit dem möglichen Tod meines Vaters auseinanderzusetzen.
Anna Rinderspacher

Zum Glück wurde mir dieses Szenario erspart: Er wurde wieder ganz gesund und arbeitet sogar immer noch in Vollzeit – obwohl er fast so alt ist wie der Großvater meiner besten Freundin. Momente wie bei der Turngala nerven mich deshalb. Sie erinnern mich daran, dass mein Familienglück zerbrechlich ist. Der verdutzte Gesichtsausdruck der Frau, die meine Mutter für meine Oma hielt, die Kommentare von Gleichaltrigen, die vom Alter meiner Eltern erfahren – "Boah, krass, dann seid ihr ja zwei Generationen auseinander!", "Hast du keine Angst, dass deine Kinder ihre Großeltern nie kennenlernen werden?" – das sind die Momente, in denen ich mich schlecht fühle.

Wir unterscheiden uns im Wesentlichen nicht von anderen Familien

Und wieso müssen diese Kommentare eigentlich immer so anschuldigend klingen? Als ob meine Eltern ihr Leben nicht so gelebt hätten, wie es sich gehört. Als ob wir weniger Familie wären, nur weil meine Eltern länger kinderlos waren als manch andere Paare. Als ob die Liebe weniger wäre, nur weil ich erst spät in ihr Leben getreten bin.

Ich kann mit Gewissheit sagen: Das ist sie nicht. Meine Eltern haben sich so lange ein Kind gewünscht, dass sie ihr Glück kaum fassen konnten, als ich endlich da war. Und dieses Glück und diese Liebe waren immer spürbar, auch wenn ich vielleicht nicht immer zu schätzen wusste, wie sie sich gezeigt hat. Das zeigt ja, dass wir uns im Wesentlichen von anderen Familien nicht so sehr unterscheiden. Leute, die über Familien urteilen, die erst spät Kinder bekommen haben, sollten sich fragen, wieso sie das tun. Falls es aus Sorge um das Kindeswohl ist, sollten sie eines wissen: Ja, alte Eltern zu haben, hat mein Leben geprägt, aber es hat mir nie geschadet.