In Dorfchemnitz in Mittelsachsen ist es ruhig an diesem Montag. Zu ruhig, wenn man das Ergebnis der Bundestagswahl kennt. 47 Prozent der Menschen hier wählten die rechtsextreme AfD. Fast das halbe Dorf.

Es ist der Tag nach der Wahl, die viele eine Zäsur nennen. Erstmals seit 72 Jahren werden nun wieder Neonazis im deutschen Oberhaus sitzen. Und nirgendwo in Deutschland wurden diese mit einem so großen Anteil der Stimmen ins Parlament gewählt wie im 1.500-Seelen-Ort Dorfchemnitz.

Wer mit gängigen Vorurteilen über AfD-Wählende dorthin fährt, würde zurecht erwarten, dass das Dorf gerade auf dem Kopf stünde. Nur tut es das nicht. An diesem Tag sind wenn überhaupt nur wenige Leute auf der Straße unterwegs. Ganz normale Leute. Es liegt eine besondere Stille in der Luft, friedlich. Und gespenstisch.

Wo sind die, welche die AfD wählten?

Das Dorf liegt idyllisch inmitten eines Tals, umringt von Wald und Grün. Mittendurch fließt der Chemnitzbach. Eine Hauptstraße schlängelt sich durch den lang gezogenen Ort, links und rechts führen schmale Wege zu Wohnhäusern mit großen Gärten, Höfen und einigen kleinen Handwerksbetrieben.

Es gibt eine Kirche, einen Fußballplatz, eine kleine Turnhalle, einen Bäcker, einen Metzger, einen kleinen Tante-Emma-Laden und ein Blumengeschäft. Mehr jedoch nicht. Kneipen und Gaststätten, wo die Menschen sich treffen und austauschen könnten, sind mittlerweile geschlossen oder werden nur für besondere Veranstaltungen geöffnet. Wie für den Besuch von Frauke Petry.

Ihr Auftritt am Abend des 6. Septembers unter dem Motto "Unser Deutschland zuerst!", hat etwas im Dorf verändert. Der Saal sei brechend voll gewesen, erzählen sich die alteingesessenen Dorfchemnitzer*innen. Für sie war das etwas Neues, dass da jemand von den großen Parteien zu ihnen kommt. Und dass es jemand schafft, überhaupt so viele Menschen im Ort zu versammeln, das sei bis dahin die Ausnahme gewesen.

"Ich bin nicht hingegangen zu der", sagt ein Rentner, der sein ganzes Leben lang schon hier wohnt. "Ich wollte das nicht mit ansehen."

Ein anderer Anwohner ist ähnlicher Meinung über Petry und ganz generell die AfD. Für ihn ist das Wahlergebnis eine Katastrophe. Aber auf der anderen Seite, meint er, ist mit der ehemaligen AfD-Spitzenkandidatin wenigstens mal irgendwer hergekommen. "Da können sich die anderen Parteien etwas abschauen", sagt er.

Die schwelenden Probleme im Ort sind spürbar. Die Menschen hier stört, dass die Jungen aus dem Dorf abwandern, wie es fast überall auf dem Land ist, und dass es kaum mehr etwas zu erleben gibt. Junge Menschen sind hier auf den Bus angewiesen, wenn sie arbeiten oder feiern gehen wollen.

Vor einiger Zeit schloss auch die Grundschule, nun müssten die Kinder mit dem Bus in den Nachbarort fahren – zusammen mit "den Ausländern", wie es damals unter einigen vor Wut schäumenden Anwohnenden hieß.

Das ist nur eine Geschichte dieser unkonkreten Angst, die viele in den vergangenen Jahren gepackt habe, sagt Mathias Klement. Er ist Pfarrmann, mit seiner Frau und den drei Kindern lebt der Berliner seit drei Jahren in Dorfchemnitz. Er, der das Dorf und die Anwohnenden recht gut kennt, war baff über das Wahlergebnis. Plötzlich kommt das Fernsehen her, plötzlich ist der Ort in den Nachrichten. Plötzlich soll sein Dorf eine rechte Hochburg sein? Ein AfD-Dorf?

Er persönlich habe trotz der Ängste nicht gespürt, dass es darauf hinauslaufen wird. Denn "die Ausländer" gäbe es hier ja gar nicht. Der Ausländeranteil in Dorfchemnitz liegt bei 0,4 Prozent.

Eine Sache sei Klement suspekt: Die Menschen im Dorf, die kennen sich untereinander gar nicht so wirklich. Klement ist Musiker, er veranstaltet regelmäßig kleine Konzerte. Dort fiel ihm schon ein paarmal auf, dass die einen oft nicht von den anderen wissen, ob sie auch aus dem Dorf kommen. Ein wenig seltsam sei das schon, wo hier doch nur eineinhalbtausend Menschen leben. Da würde man erwarten, dass die Menschen übereinander Bescheid wüssten.

Die Menschen, die AfD wählen wollten, die kennt Klement nicht. Womöglich, weil sie nicht erkannt werden wollen.

"Dazu hab ich nichts zu sagen"

865 Menschen haben in Dorfchemnitz gewählt. Fast jede*r zweite dieser Menschen gab die Stimme einer rechtsextremen Partei. Man könnte nun glauben, sie hätten das aus einer Art kollektiven Überzeugung getan. Dass sie wirklich daran glauben würden, die AfD würde etwas verändern. Dass sie zu ihrer Wahl stehen würden und auch ein paar Argumente dafür parat hätten. Dass sie ihre Probleme gerne nach außen kommunizieren würden.

Doch wer versucht, mit diesen Menschen in Dorfchemnitz ins Gespräch zu kommen, wird eines besseren belehrt: Dialog? Wollen wir nicht, bringt doch eh nichts.

Kommunikationsversuche führen am Tag nach der Wahl ins Nichts. Selbst dann, wenn man ihnen sagt, für eine ausgewogene Berichterstattung sei das doch wichtig. "Mit euch spreche ich nicht", "Nichts werde ich dazu sagen", "Ich kann mich dazu nicht äußern, ich habe gerade eine Firma gegründet". Das sind nur ein paar ausgewählte Ausreden. Manche behaupten, sie hätten gar nicht gewählt. Fragt man sie, warum nicht, fallen sie in eine Art Ohnmacht, verhaspeln sich – oder flüchten aus dem Gespräch. Nur eines sind sie nie dabei: aggressiv.

In Clausnitz, das ein paar Kilometer entfernt liegt, hatten Anfang 2016 rund 100 wütende Menschen versucht, die Ankunft eines Busses mit Asylbewerber*innen zu verhindern. Schwer vorstellbar, dass so etwas auch in Dorfchemnitz passieren könnte.

Echte Rechtsradikale dürften die wenigsten Menschen sein, die in diesem Ort die AfD wählten. Und Neonazis schon gar nicht. Sie sind einfach nur sauer über ihre Situation. Darüber, dass sie so abgeschottet leben. Dass sie für Arbeit in die Städte fahren müssen, oder gleich auf Montage.

Obwohl spürbar ist, dass das gerade vielen jungen Dorfchemnitzer*innen auf der Zunge brennt, scheinen sie einfach nicht darüber sprechen zu wollen. Eine 17-jährige Jugendliche sagt, dass in ihrem Freundeskreis überhaupt wenig über Politik gesprochen werde. Das sei hier eher Nebensache. Manche seien eben links, andere sehr rechts, aber so wirklich ein Thema sei das nie. Auch nicht direkt vor der Wahl. Hätte sie wählen dürfen, so sagt sie, hätte sie nicht die AfD gewählt.

Trotzdem: Sie ist der Meinung, dass sich jetzt bald mal etwas ändern müsse. Auf die Frage, was genau, hat sie keine echte Antwort. "Vieles", sagt sie lächelnd. Dann geht sie weiter. Sie möchte nach Hause, kam gerade von der Arbeit in Dorfchemnitz an. Mit dem Bus.

Unser Videoporträt über Dorfchemnitz findet ihr ganz oben.

Korrektur, 28. September: In einer früheren Version des Artikels stand, durch Dorfchemnitz fließe die Zwönitz. Durch das Dorfchemnitz, über das wir berichten, fließt der Chemnitzbach. Es gibt ein zweites Dorfchemnitz, rund 50 Kilometer entfernt, durch das die Zwönitz fließt.