Martina liebt ihren Freund. Seit neun Monaten sind sie zusammen. Schlafen möchte sie dennoch nicht mit ihm. Ein Einblick in die Perspektive einer Asexuellen.

"Ich finde die Vorstellung von Geschlechtsverkehr ekelhaft", gibt Martina zu. Ihrem Freund habe sie das bereits vor der Beziehung erzählt. Im Gegensatz zu ihr sei er heterosexuell. "So eine Beziehung ist nicht einfach. Wir mussten beide erst mal darüber nachdenken, ob wir das wirklich wollen – und können."

Martina ist 19 Jahre alt und lebt in Berlin. Sie zählt sich zu der Minderheit der asexuell orientierten Menschen. Das bedeutet, sie empfindet kein Verlangen nach sexuellen Interaktionen. Romantische Gefühle hat sie trotzdem. Ihre Beziehung bezeichnet sie als Kompromisssuche. "Man muss sich immer fragen: Was braucht der Partner mindestens? Und was kann ich ihm maximal geben?" Das Liebesleben der beiden sei ein langsames Antasten und Kennenlernen der Grenzen. Auch ihr Freund musste erst einmal lernen, mit ihren Bedürfnissen umzugehen. Schließlich wüssten die meisten Menschen nicht, was Asexualität genau ist. "Viele kaufen mir das erst nicht ab, wenn ich ihnen meine Orientierung schildere", berichtet Martina. "Die erste Reaktion ist meistens: 'Hä? So etwas gibt es?' Das tut schon weh."

Keine Störung, sondern eine Orientierung

Einige Asexuelle bekommen in solchen Momenten Vorwürfe, dass sie doch bloß Moralapostel seien oder einen religiös fundamentalistischen Glauben hätten. Das gesellschaftliche Unverständnis reicht hin bis zur Vermutung, dass Asexualität mit einer Sexualstörung zusammenhängen könnte. Im Gegensatz zu einer sexuellen Störung können viele asexuelle Personen aber sehr wohl sexuelle Erregung verspüren. Zumindest rein physisch.

"Asexualität ist nicht gleichbedeutend mit dem Fehlen einer Libido", erläutert Irina Brüning vom Verein AktivistA. Sie gehört einer Gruppe von Menschen an, die über diese sexuelle Orientierung aufklären. So würden manche asexuelle Personen gar masturbieren und dies als angenehm empfinden. Das Spektrum sei breit und schließe sowohl die Personen ein, die keine sexuelle Anziehung empfinden oder gar sexuellen Handlungen abgeneigt sind, als auch andere, die ein sehr schwaches Bedürfnis nach sexuellem Kontakt haben.

"Dies scheint für viele Menschen schwer vorstellbar zu sein, weil sexuelles Begehren für sie so einen wichtigen Stellenwert in ihrem Leben einnimmt. Es wird meist vorausgesetzt, dass befriedigende Sexualität zu einem erfüllten Leben dazugehört", erklärt Brüning. Und tatsächlich: Schaut man sich um, entdeckt man Sexualität in der gesamten Kulturlandschaft. Sex sells und Sex normt. Doch die sexualisierten Aussagen über die angeblich ideale Liebesbeziehung treffen auf Asexuelle nicht zu. Sie fühlen sich ausgeklammert.

"Meine Pubertät war schrecklich."

Auch Martina stand mit ihren Gefühlen lange Zeit alleine da. Während der Schulzeit beobachtete sie Pärchen beim Knutschen, und verstand nicht, warum Sexualität plötzlich zum brisanten Thema wurde. Wenn ihre Freund*innen angeregt über ihre Beziehungen oder ihr erstes Mal schnatterten, zog sie sich zurück.

Ich hab diesen Hype gar nicht kapiert und mich die ganze Zeit gefragt: 'Tickt die Welt nicht mehr richtig, oder ticke ich falsch?'
Martina

Martina bekommt Angst. Im Internet sucht sie nach Informationen, um das in Worte zu fassen, was sie von ihren Klassenkamerad*innen unterscheidet. Ohne Erfolg. Die wenigen Hinweise, die es gibt, findet sie nur auf englischen Seiten. "Ich war 14 Jahre alt und in diesem Alter, in dem man sich selbst finden muss und zugleich einer Gruppe angehören möchte", erzählt sie. Der Mangel an Aufklärungsmaterial in Deutschland macht sie immer noch fassungslos. "Es gibt einfach kaum deutschsprachige Infos zur asexuellen Orientierung. Da muss man doch als Jugendliche denken, dass etwas falsch mit einem ist!"

Irgendwann kommt dann der Aufklärungsunterricht. Die Erwartungen sind groß, doch das Thema der sexuellen Orientierung wird komplett übersprungen. Die Lehrenden gehen direkt in die Erklärung des Sexualaktes über. Martina sitzt zwischen den kichernden Jugendlichen und kämpft mit ihren Tränen. Sie klammert sich an der Hoffnung fest, dass sich mit ihrer ersten Beziehung doch noch alles ändern könnte.

Als es schließlich so weit ist, stürzt sie sich förmlich hinein. "Ich habe mich zu Dingen gezwungen, an denen ich kaputt gegangen bin", sagt sie heute. Ihr damaliger Freund sei unsicher gewesen und habe viel eingefordert. Auch war er enttäuscht, wenn mal etwas nicht klappte. "Er war ja selbst noch unerfahren und wir wussten beide nicht, wie wir mit der Situation umgehen sollten. Irgendwo hatte er auch Angst, dass es an ihm liegen könnte, dass ich nicht das Bedürfnis nach Sex habe." Das junge Paar versucht weiterzumachen. Martina macht weiter, weil ihr gesagt wurde, dass sexuelle Handlungen zu einer glücklichen Beziehung dazugehören. Sie zwingt sich, um wie die anderen zu sein. Auch wenn es ihr wehtut. Oder sie die Idee abstoßend findet. Es wird sie trotzdem irgendwie glücklich machen, hofft sie. Und dann fällt sie in ein Loch.

Der Schlüsselmoment

Es ist ihr erster großer Zusammenbruch. Kurz darauf stößt Martina auf das deutschsprachige AVEN Forum. Die Plattform gehört dem internationalen Asexual Visibility and Education Network (kurz: AVEN) an und ist ein Austauschplatz für asexuell orientierte Menschen und Personen, die sich über die Orientierung informieren wollen. "Als ich das AVEN Forum gefunden habe, war das ein Schlüsselmoment für mich. Die vielen verschiedenen Geschichten zu lesen und zu wissen, dass man nicht alleine ist: Das war unglaublich befreiend!"

Tatsächlich stöbert sie durch viele Erfahrungsberichte, die sich bekannt anfühlen, und durchforstet die Rubriken, in denen vertraute Probleme geschildert und Lösungsmöglichkeiten beraten werden. Sie ist plötzlich umgeben von Menschen, die ihre Orientierung teilen. Für Martina mündet ihr langer Leidensweg zu einem Moment des eigenen Bekenntnisses. Auch ihre Beziehung zerbricht, denn beide erkennen plötzlich, dass sie keine gemeinsame Lösung finden können. "Es war zu viel Druck. Nach meinem Tiefpunkt hatte ich eine Schutzmauer gebaut, hinter der ich eine fast feindliche Haltung gegen Sexualität entwickelt hatte. Die konnte ich mithilfe der AVEN Community langsam einreißen", erzählt sie. Sich selbst habe sie erst vor einigen Monaten voll annehmen können.

Von ihrer Familie und ihren Freund*innen wurde ihre Orientierung gut aufgenommen. "Ich habe daraus eigentlich kein großes Outing gemacht. Und ich bin mir noch immer nicht sicher, ob meine Eltern so wirklich wissen, was Asexualität ist. Aber immerhin kommen keine besorgten Nachfragen mehr, ob ich denn ordentlich verhüte", lacht sie. Nur von einigen Personen würde sie sich wünschen, dass sie ihre Orientierung einfach akzeptieren würden. Oft käme die Frage, woher sie denn wüsste, dass sie keinen Sex mag, wenn sie noch nie welchen gehabt hätte. Martina kontert dann:

Woher wisst ihr denn, dass ihr nicht homosexuell seid, wenn ihr noch keine*n homosexuelle*n Partner*in hattet?

"Einige Sachen finde ich auch gut."

Martina geht mittlerweile offener mit dem Thema Sex um, sie beantwortet gerne die Fragen, die neugierige Freund*innen stellen. Nicht zuletzt auch wegen des wachsenden Selbstvertrauens und der jetzigen Beziehung. Diese sei zwar kompliziert, aber auch lehrreich. "Es ist halt immer der Konflikt bei mir: Achte ich meine eigenen Grenzen oder gehe ich über meine Grenzen hinaus, um meinen Partner glücklich zu machen? Von meinem Partner wünsche ich mir aber ebenso Feingefühl und Kompromissbereitschaft." So steht am Anfang meist der Verzicht. Doch das muss nicht immer so bleiben. Brüning von AktivistA erinnert daran, dass Asexuelle keine homogene Gruppe sind und sich in Bezug auf romantische Orientierung, Libido, Einstellung zu Sex und anderen Aspekten unterscheiden. Das heißt, dass jede Person unterschiedlich viel geben kann und möchte.

"Es ist ja wie in jeder Beziehung: Am Anfang testet man gemeinsam Dinge aus. Ich habe zum Beispiel herausgefunden, dass ich einige Sachen auch gut finde", verrät Martina. Sex wolle sie trotzdem nicht haben – da liege ihre persönliche Grenze. Mit ihrem Freund tauscht sie sich weiterhin offen und ehrlich über beider Bedürfnisse aus. Er selbst habe vor der Beziehung erst gehadert, sich dann gründlich informiert und für beide eingesetzt. Man lerne schließlich nur gemeinsam und wolle das auch zusammen am Laufen halten. Trotz Schwierigkeiten. Diese Lösung, sagt Martina, sei zwar nicht immer die Einfachste. Aber die Schönste sei sie allemal.