Taeko hat die Nase voll von ihrem Bürojob in Tokio. Zu laut, zu gehetzt ist ihr der Alltag in der Stadt. Obendrein nervt die Familie ständig mit der Frage, wann Taeko endlich heiratet. Mit 27 Jahren sei es doch mal Zeit, unter die Haube zu kommen. Taeko beschließt, dem Trubel für kurze Zeit zu entkommen. Bei der Familie ihres Schwagers will sie auf dem Land bei der Ernte mithelfen und neue Kraft tanken.

Wäre Tränen der Erinnerung – Only Yesterday wie die meisten Animes der japanischen Produktionsfirma Studio Ghibli, würde Taeko jetzt in ein poetisches Fantasyabenteuer stolpern. Der Nachtzug würde sie nicht aufs Land bringen, sondern in einer Welt putziger Geister- und Fabelgestalten aussetzen. Taeko müsste zwischen den Guten und Bösen verhandeln, um am Ende gestärkt in ihre Welt zurückzukehren. Aber dieser Ghibli-Film ist anders als etwa Chihiros Reise ins Zauberland oder Mein Nachbar Totoro.

Isao Takahatas Mangaadaption Tränen der Erinnerung – Only Yesterday, die 1991 erschien und zurzeit auf Netflix zu sehen ist, bleibt in der Realität.

Auf dem Weg aufs Land erinnert sich Taeko an Momente ihrer Schulzeit. Wie die Schülerinnen damit umgingen, ihre Periode zu bekommen. Wie Taekos wortkarger Vater sie zum ersten und einzigen Mal schlug. Wie die Familie es zelebrierte, eine frische Ananas zu kosten. In Nostalgie schwelgend beginnt Taeko, ihr Leben zu reflektieren. Wovon hat sie als junges Mädchen geträumt? Welche dieser Träume hat sie sich mit Ende 20 bereits erfüllt? Wo soll ihr Leben sie noch hinführen?

Tränen der Erinnerung – Only Yesterday formuliert Lebenstipps wunderbar unaufdringlich

Die Farbwelt des Animes ist dem realistischen Ansatz entsprechend dezent gehalten. Statt catchy Orchestermelodien gibt's auch mal rumänische Musik aus den 1970ern auf die Ohren. Und dramaturgisch arbeitet Tränen der Erinnerung – Only Yesterday auf keinen Höhepunkt hin, der Gut-gegen-Böse-Kampf fällt aus. Einer Erinnerung folgt eine Erkenntnis folgt eine Erinnerung. Und die aus diesem Prozess resultierende Entscheidung für ihr Leben trifft Taeko erst, als bereits der Abspann durchs Bild rollt.

Nicht nur von der Machart sticht das Drama Tränen der Erinnerung – Only Yesterday aus der Ghibli-Filmreihe heraus. Taeko ist zugleich am ehesten die Figur des japanischen Studios, in der sich Millennials wiederfinden können. Obwohl der Film im Jahr 1982 spielt, beschreibt er eine Orientierungslosigkeit, die viele mit Ende 20 kennen dürften: Irgendwie läuft's im Job, irgendwie läuft's privat – aber vom großen Glück zu sprechen, wäre übertrieben. Und nun?

Das Ende des Films impliziert, dass Taeko ihr Glück auf dem Land finden wird. Sie bleibt an dem Ort, der ihr schon als Mädchen gefiel. Taekos Entscheidung wird aber nicht als Lösung für allgemeine Orientierungsschwierigkeiten verkauft. Viel mehr ermuntert das Drama dazu, in Phasen der Unzufriedenheit auf Abstand zu gehen: den Alltag zu verlassen und die bisherigen Erfahrungen zu reflektieren. Diese Erkenntnisse müssen nicht aus großen Abenteuern oder bedeutungsschwangeren Erlebnissen erwachsen. Auch kleine Erinnerungen können zu Entscheidungen führen. Der Geschmack einer Ananas zum Beispiel.

Nach diesem Ghibli-Film fühlt man selbst ein bisschen so, als wäre man auf dem Land gewesen. Oder zumindest bereit, an einem solchen Sehnsuchtsort selbst die eigenen Erinnerungen und Wünsche zu ergründen.

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