Kathrin lacht viel, vor allem über sich selbst. Nur manchmal, da wirkt sie irgendwie abwesend. Wenn sie über ihre Erfahrungen mit Drogen spricht, scheint sie die Worte nicht zu finden. Immer wieder gerät sie ins Stocken. "Es sollte eigentlich ein lustiger Abend werden", sagt sie. "Aber dann wurde es der schlimmste meines Lebens."

Alles begann mit einem Joint.

Kathrin hatte zuvor noch nie gekifft und fühlte sich unsicher. Ihre Freund*innen wollten sie nicht überreden, hatten es ihr nur angeboten. Sie wollte aber unbedingt. Nur mal ausprobieren und sehen, wie es ist. Also nahm sie einen Zug. Sofort spürte sie, wie sie locker wurde und über alles Mögliche kichern musste, so wie sie es schon von anderen gehört hatte. "Ich konnte einfach nicht mehr aufhören zu lachen. Ich lachte und lachte und irgendwann fing ich an zu schreien." Von einer Sekunde auf die andere schlug ihre Stimmung um.

"Es war, als wäre ich außerhalb meines Körpers. Ich konnte nicht sprechen, ich zitterte und wiederholte immer wieder in meinem Kopf, wer ich bin und wo ich wohne. Als ob ich es sonst vergessen würde. Ich driftete immer wieder ab, war weg und plötzlich sprachen wieder meine Freunde zu mir." Kathrins Freund*innen wollten den Krankenwagen rufen, doch dadurch bekam sie nur noch größere Panik. "Ich dachte, ich müsste sterben. Ich schreckte immer wieder hoch und glaubte, bereits tot zu sein."

Als Kathrin am nächsten Tag aufwacht, ist alles vorbei. Doch das Erlebte lässt sie nicht mehr los. "Ich wusste nicht, dass man so große Angst fühlen kann. Dass der menschliche Körper überhaupt fähig ist, so etwas zu fühlen." Sie wirkt zerfahren während sie das erzählt, schaut immer wieder auf den Boden. "Und dann kamen die Flashbacks und es wurde nur noch schlimmer."

Zwei Wochen später, als Kathrin in der Schule sitzt, fährt ihr plötzlich eine unerträgliche Hitze durch den Körper. "Ich bekam Herzrasen, Atemnot. Es fühlte sich an wie der Horrortrip", sagt sie. "Ich bin heulend nach Hause gelaufen. Habe nicht mal Bescheid gesagt, ich musste einfach raus. Aber das Gefühl blieb." Sie sagt, es sei wie in einem Film gewesen, in dem aus der Sicht des*der Protagonist*in plötzlich alles verschwimmt, Stimmen weit entfernt klingen und alles wie hinter einem dichten Nebel aussieht.

Jede*r steht mal neben sich

Was Kathrin erlebt, nennt sich Derealisation. Wir alle kennen solche Sprüche wie "Ich habe das Gefühl, neben mir zu stehen", "Ich kann das noch gar nicht realisieren" oder "Ich bin gerade irgendwie nicht ich selbst". Meistens ist das nur im übertragenden Sinne gemeint, doch für Menschen wie Kathrin fühlt es sich wirklich so an.

Das Phänomen der Derealisation erleben die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens, aber normalerweise nur kurz. Wenn wir zum Beispiel sehr müde sind oder uns in einer fremden Umgebung befinden, dann haben wir manchmal das Gefühl, als seien die Dinge um uns herum unwirklich. Sie sehen anders aus als sonst, scheinen entfernt zu sein. Auch wenn wir nach längerer Zeit nach Hause kommen, kann unser Zuhause fremd wirken. Auch wenn Menschen extremen Belastungen ausgesetzt sind oder etwas Traumatisches erleben, kann die Psyche mit Derealisation oder Depersonalisation reagieren. Diese Gefühle vergehen nach kurzer Zeit von selbst. Etwa die Hälfte der Bevölkerung erlebt solche Gefühle zumindest einmal im Leben.

Bei Kathrin war es anders. Monatelang brachten weder Schlaf noch Zeit Besserung. Sie hatte permanent das Gefühl, als sei sie hinter einer unsichtbaren Mauer, als wären Menschen weit von ihr entfernt, Gegenstände nicht echt. Sie hatte unglaubliche Angst. "Ich wusste, dass etwas schiefgegangen war beim Kiffen. Das schlimmste war, als ich eines Tages in die Küche kam und meine Eltern nicht erkannte. Ich wusste, dass sie das waren, aber ich erkannte sie einfach nicht."

Leben wie im (Alb-)Traum

Menschen mit chronischer Derealisation fühlen sich wie abgeschirmt oder nicht richtig da. Als sei alles, was sie bisher als vertraut empfanden, fremd und weit von ihnen entfernt. Als hätte sich etwas verändert. Sie wissen nur nicht was.

Dabei wird unterschieden zwischen Derealisation, die das Gefühl beschreibt, die Umgebung und andere Menschen als unwirklich wahrzunehmen, und Depersonalisation. Das bedeutet, dass sich der eigene Körper fremd und ferngesteuert anfühlt. Dabei sind auch Erinnerungen und Gefühle betroffen, die sich anfühlen, als seien sie nicht die eigenen. Auch das kennt Kathrin.

"Ich hatte oft das Gefühl, als könne ich mich nicht erinnern, was ich die letzten Tage gemacht habe. Dabei wusste ich es, es fühlte sich nur nicht echt an, wenn ich mich daran erinnerte." Auch sich selbst erkannte sie vor dem Spiegel nicht mehr: "Ich konnte meine Stimme hören, aber es war irgendwie nicht meine. Sie klang, als käme sie von jemand anderem. Manchmal musste ich mitten im Gehen anhalten, um mir zu beweisen, dass ich noch die Kontrolle über meine Bewegungen habe."

Was den Betroffenen aber am meisten zu schaffen macht, ist die Angst.

Drogen sind immer nur Auslöser, keine Ursache

Kathrin schaffte den Alltag nicht mehr. Immer wieder bekam sie Panikattacken, Todesangst und fürchtete zu sterben. Die Angst war immer da. Sie wachte mit Herzrasen auf und schlief mit Herzrasen ein. Albträume verfolgten sie und sie glaubte, nie mehr ein normales Leben führen zu können. In ihrer Verzweiflung suchte sie eine Drogenberatungsstelle auf. Doch mit den Worten, ein zu harter Fall zu sein, wurde sie wieder nach Hause geschickt.

Eigentlich kaum zu glauben, wenn man bedenkt, dass Fälle wie dieser nicht selten sind. Eine Cannabis-Intoxikation führt oft zu Wahrnehmungsveränderungen wie Derealisation und Depersonalisation, weiß Univ.-Prof. Dr. med. Matthias Michal. Er bietet eine Spezialsprechstunde für Derealisation und Depersonalisation an der Universitätsklinik in Mainz an. Warum es zu dieser Symptomatik bislang nur wenige Studien gibt, ist ihm ein Rätsel. Es wird davon ausgegangen, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung unter klinisch relevanter Depersonalisation/Derealisation leidet. Oft beginnen die Symptome vor dem 20. Lebensjahr.

Gerade der vermeintlich harmlose Joint löst häufig ein Unwirklichkeitsgefühl aus. Dieses Unwirklichkeitsgefühl ist aber, sobald die Cannabinoide den Körper innerhalb weniger Stunden verlassen haben, nicht mehr durch die Drogen bedingt. Wenn es bleibt oder wiederkommt, dann ist dies kein Zeichen für eine Hirnschädigung durch das Cannabis, sondern weist auf ein tieferliegendes Problem hin.

Die Angst vor den eigenen Gefühlen

Die Menschen, die an die Uniklinik Mainz kommen, sind oft verzweifelt, doch sie haben gegenüber manch anderen Betroffenen einen entscheidenden Vorteil: Sie erkennen, dass sie psychische Probleme haben. Das ist nicht immer so.

"Viele suchen körperliche Ursachen für ihre Beschwerden", sagt Prof. Dr. Michal. Sie lassen ihre Augen untersuchen, weil sie ihre Umwelt als sehr flach und verschwommen wahrnehmen oder gehen ins Krankenhaus, weil sie denken, ein Hirntumor sei für ihre vernebelte Wahrnehmung verantwortlich.

Die Betroffenen sind häufig sensibel und ängstlich, beobachten sich ständig selbst und steigern sich in ihre Angst hinein. So werden die Symptome oft bis ins Unerträgliche gesteigert. Irgendwie paradox, denn die Derealisation soll uns eigentlich von unerträglichen Gefühlen abschirmen. Dr. Michal bezeichnet das als Flucht vor dem vollen Erleben der Wirklichkeit. Eine Reaktion der Psyche. Oft leiden die Patient*innen bereits vor dem Beginn der Unwirklichkeitsgefühle unter einer Angststörung oder einer Depression.

Auch Kathrin hatte bereits vor ihrem Horrortrip Panikattacken. Manchmal löst auch eine solche Attacke die Derealisation aus. Bei anderen kommen die Symptome schleichend oder durch veränderte Lebensumstände. Jeder Mensch ist anders und bei jedem Menschen reagiert auch die Psyche anders. Allerdings haben Menschen mit chronischer Derealisation oder Depersonalisation eines gemeinsam: Sie haben bereits in ihrer Kindheit gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken oder zu ignorieren. Erleben sie dann sehr starke Emotionen wie beim Drogenkonsum oder bei einer Panikattacke, kann das dazu führen, dass ihr Körper ihre Gefühle abspaltet, quasi auf Autopilot schaltet.

Auch Kathrin fühlte sich in ihrer schlimmsten Zeit wie ferngesteuert.

Es kam mir vor, als fühlte ich gar nichts mehr – außer Angst und Verzweiflung. Als würde ich gar nicht existieren. – Kathrin

Oft liegt diesen Gefühlen eine tiefe Angst vor dem Alleinsein zugrunde. Die Betroffenen haben Angst, so wie sie sind nicht akzeptiert und verlassen zu werden. Darum schirmen sie sich innerlich vor ihren eigenen Ängsten und Gefühlen ab und bleiben nur als eine Art Beobachter*in in der Welt. So müssen sie ihre Emotionen nicht fühlen und können es vermeiden, sich vor anderen zu blamieren oder bloßgestellt zu werden. Nicht jeder Mensch, der seine Gefühle unterdrückt, leidet sofort an Derealisation. Aber so gut wie jede*r, der*die an Derealisation leidet, unterdrückt sie. "Für die Betroffenen können die Gefühle selbst zur Bedrohung werden", so Prof. Dr. Michal. "Sie versuchen sich vor etwas zu schützen, vor dem sie sich nicht schützen müssen."

Therapie gegen die Unwirklichkeitsgefühle

In Mainz versucht man, die Patient*innen in stationärer Behandlung wieder in Einklang mit ihrem Körper zu bringen. Zum Beispiel durch Achtsamkeitsübungen. Viele erleben dann erst mal Angstgefühle statt Entspannung. Trotzdem oder gerade deshalb kann Achtsamkeit auf lange Sicht helfen, wieder ins Leben zu finden. Die Menschen erkennen dadurch, dass die Derealisation oder Depersonalisation aus einer Angst heraus entsteht und können lernen, ihre Gefühle zuzulassen.

Viele Betroffene hinterfragen oft die Realität. Sie denken über den Sinn oder die mögliche Sinnlosigkeit des Lebens nach. Fragen sich, was real ist. So steigern sie sich immer mehr in den Zustand hinein. Sie müssen lernen, mit der Angst umzugehen und wieder im Hier und Jetzt anzukommen. "Man muss nicht akzeptieren, dass man die Symptome hat. Man muss aber akzeptieren, dass man emotionale Probleme hat." So Prof. Dr. Michal.

Die meisten brauchen dafür eine Therapie. Eine positive Wirkung von Medikamenten konnte bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden. Anders als zum Beispiel bei Depressionen, für die es wirksame Medikamente gibt. Der Symptomatik liegt ein innerer Konflikt zugrunde, der aufgearbeitet werden muss. Dafür müssen aber Widerstände überwunden und ein Zugang zu den Gefühlen geschaffen werden. Prof. Dr. Michal konnte in der Uniklinik Mainz bereits Erfolge bei seinen Patient*innen erzielen. Viele haben klare Momente, wenn sie über ihre Gefühle gesprochen haben.

Auch Kathrin hat sich für eine Psychotherapie entschieden, um ihre Angststörung zu behandeln und zu lernen, mehr auf ihre Gefühle zu hören. Sie hat oft ihr Bauchgefühl ignoriert und sich so in Situationen gebracht, die ihr nicht guttaten. Sie hat versucht, stark zu sein, nicht zu weinen, nicht wütend zu werden, nicht sie selbst zu sein. Darum hat sie sich selbst auch irgendwann nicht mehr gespürt.

Zu wissen, woher die Unwirklichkeitsgefühle kommen, hat ihr dabei geholfen, mit ihnen umzugehen. Manchmal sind sie noch da, aber mittlerweile hat sie gelernt, ihnen nicht mehr die Kontrolle über sich zu überlassen. Seitdem sie angefangen hat, ihre Gefühle aufzuarbeiten und zuzulassen, hat sie keine Panikattacken mehr. Kathrin glaubt fest daran, dass sie bald wieder ein ganz normales Leben führen kann. Ohne Angst, ohne Derealisation. Um wieder sie selbst zu sein – im Hier und Jetzt.

HILFE HOLEN

Du hast das Gefühl, du leidest auch unter Unwirklichkeitsgefühlen? Bei der Telefonseelsorge findest du online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen.