Gesund essen – das ist vorbildlich. Doch der Trend zu Superfood, Clean Eating und "frei von"-Produkten kann schnell in Extreme driften: Wie bei Lara. Dafür gibt es einen Namen: Orthorexie nervosa. Die Gedanken von Lara* drehen sich nur um eines: Essen. Jeden Morgen stellt sie sich für eine Stunde in ihre kleine Studentinnen-Küche und bereitet ihr Essen für den Tag zu: Frühstück, Snack, Mittagessen, zweiter Snack, Abendessen. Jede Mahlzeit ist akkurat durchgeplant. Spontanes Essengehen? Schwierig.

Frühstück: 50 Gramm Haferflocken, 100 Milliliter Milch, eine Banane, fünf Gramm Weizenkleie, fünf Mandeln und 100 Gramm Erdbeeren. 

Lara ist 20 Jahre alt und studiert auf Lehramt. Seit zwei Jahren leidet sie unter einer Essstörung. Mit einem Gewicht von 54 Kilogramm bei einer Größe von 1,74 Meter besaß Lara die Traummaße vieler junger Mädchen. Mit der Pille nahm sie vier Kilogramm zu. "Das überrumpelte mich, ich hatte zuvor nie so plötzlich zugenommen", erzählt sie. Lara bekam es mit der Angst zu tun: Was, wenn sie noch weiter zunähme?

Laras Ziel: Gesund abnehmen

Sie fasste den Entschluss, abzunehmen. Dabei wollte sie möglichst leistungsfähig bleiben, alles sollte gesund und strukturiert ablaufen. "Deshalb entschied ich mich für die Clean-Eating-Methode, statt für eine herkömmliche Crash-Diät." Das heißt: Speisen selbst kochen, möglichst unverarbeitete Zutaten, wenig Zucker, keine Weißmehl-Produkte, viel Obst und Gemüse.

Erste Zwischenmahlzeit: Proteinshake aus Lupineneiweiß

Lara versah ihren Essenplan mit immer mehr Regeln und durchforstete das Netz nach mehr Informationen. Wenn sie sich eine Süßigkeit gönnte, dann nur im Kompromiss: wenn Schokolade, dann die mit dem höchsten Kakaoanteil. Wenn Kekse, dann nur die aus Vollkorn und ohne Rohrzucker.

"Das ganze Internet ist voll von Tipps für die cleane Ernährung. Es macht mir Spaß, stundenlang von Food-Blog zu Food-Blog zu surfen, mir neues Wissen anzueignen und Rezepte rauszusuchen. Dabei hatte ich immer im Hinterkopf: Das ist gesund für meinen Körper, damit tust du dir etwas richtig Gutes. Es war ein tolles Gefühl", sagt Lara.

Gesund oder krankhaft?

Sie wurde zu einem Moralapostel der gesunden Ernährung, schwärmte ihren Freunden regelmäßig davon vor. "Von dem Begriff Orthorexie nervosa hörte ich erst vor einem Jahr, davor nahm ich meine Essstörung gar nicht als solche wahr", sagt sie. Ihre Familie und Freunde machten sich vorerst auch keine Sorgen – Lara ernährte sich eben gesund.

"Spätestens als ich zu dem Geburtstag meiner besten Freundin den eigenen cleanen Vollkorn-Geburtstagskuchen ohne Zucker mitbrachte, weil ich den von meiner Freundin meiden wollte, merkten meine Freunde: Da stimmt was nicht." Auch ihre Eltern machten sich langsam Sorgen: Beim Weihnachtseinkauf bestand Lara darauf, dass ihre Eltern für sie keine Schoko-Weihnachtsmänner kauften. Lara gönnte sich nichts mehr, alles musste strikt nach ihren Regeln ablaufen. Und ihr Umfeld musste mitspielen.

Hauptmahlzeit: 125 Gramm Kichererbsen mit 150 Gramm Süsskartoffel und 200 Gramm Bohnen

Nach einem Jahr voller Essenpläne und gezählter Kalorien stellte Laras Arzt fest, dass ihr Essverhalten dem als Orthorexia nervosa beschriebenen Phänomen entspricht. Lara selber wollte erst nichts von einer Essstörung wissen. Erst als sich ihr zwanghaft reglementiertes Essen nach einem halben Jahr zu einer Bulimie entwickelte, wurde sie sich ihrer Essstörung bewusst. "Gerade das macht Orthorexie ein wenig aus: Man weiß gar nicht, dass man ernsthaft erkrankt ist", sagt Lara. Und vielleicht ist das auch das Gefährliche daran.

"Orthorexie bezeichnet die übermäßige Fixierung auf gesunde Ernährung. Die Betroffenen vermeiden Lebensmittel, die sie für ungesund halten und wählen gezielt Lebensmittel aus, die nach ihren eigenen Kriterien und Vorstellungen gesund sind", definiert Psychologin Friederike Barthels von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Das mögliche Störungsbild Orthorexie sei aber bisher wenig erforscht. Offiziell dürfe man es nicht als Krankheit bezeichnen oder diagnostizieren. Manche Wissenschafter*innen zweifeln gar an ihrer Existenz. Die Grenzen zwischen gesunder Ernährung, Orthorexie, Magersucht und einer temporären Diät sind schwammig. Doch wann lässt sich erkennen, dass ein Patient an Orthorexie erkrankt ist?

Wenig erforschtes Krankheitsbild

"Orthorektisches Ernährungsverhalten wird dann zum Problem, wenn es den ganzen Tagesablauf und die gesamte Gedankenwelt der Betroffenen bestimmt. Viele Betroffene isolieren sich aufgrund ihrer Ernährungsweise. Sie nehmen beispielsweise nicht mehr an Familienessen teil oder lehnen Einladungen ab, weil sie fürchten, dort unbekannte und ungesunde Lebensmittel essen zu müssen", sagt Friederike Barthels.

Auch Lara kann sich kein Familienessen mehr vorstellen. "Seit ich erkrankt bin, sieht meine Mutter nur noch die Essgestörte in mir. Ich habe kaum Hoffnung, dass sich das noch einmal ändert", sagt sie. Es schwingt Wut und ein wenig Trauer in ihrer Stimme mit. Das größte Opfer ihrer Essstörung sei für sie das kaputte Familienverhältnis.

Zweite Zwischenmahlzeit: Banane und Naturjoghurt

Schnell merkte sie, dass ihr die ambulante Therapie, welche der Arzt ihr verschrieben hatte, nicht ausreichte. Sie entschlossen sich für einen zweimonatigen Klinikaufenthalt. Bis dahin nahm Lara jedoch noch einmal stark ab und musste bei 49 Kilogramm und einem extrem belasteten Körper für einen Monat ins Krankenhaus.

Ist Orthorexie gefährlich?

Für Lara wurde die Orthorexie erst in Kopplung mit einer anderen Essstörung, der Bulimie, gefährlich. Wie schädlich Orthorexie allein ist, zur Beantwortung dieser Frage sei die Forschung noch nicht weit genug, sagt Barthels. "Zumindest in Einzelfällen kann eine orthorektische Ernährungsweise zu Mangelerscheinungen oder Untergewicht führen. Außerdem können soziale Isolation und Depressionen aufgrund der besonderen Ernährungsbedürfnisse auftreten. Grundsätzlich ist gesunde Ernährung aber immer noch eine der Gesundheit zuträgliche Verhaltensweise, sodass die Orthorexie insgesamt als weniger gefährlich einzustufen ist."

Jedenfalls körperlich. Was sich im Kopf einer*eines Essgestörten abspielt und wie die Ernährung den Alltag einnimmt, ist vielleicht nicht gefährlich. Doch kann es das Leben zur Qual machen. Heute ist Lara bewusst, dass sie krank war und es auch immer noch ist. "Mein Kopf weiß, dass ich essgestört bin", sagt sie. Trotzdem hält sie sich Tag für Tag akribisch an ihren Essenplan. "Ich wohne jetzt alleine und muss schauen, wie ich damit klarkomme. Deshalb habe ich die Regelung festgesetzt: Lieber orthorektisch als bulimisch." Das geplante, gesunde – wenn auch zwanghafte – Essen hilft ihr, nicht wieder in die Bulimie reinzugeraten.

In einer Therapie ist sie jetzt nicht mehr. Ob sie daran glaubt, je wieder normal essen zu können? "Ab und zu verschiebe ich geplante Mahlzeiten, wenn ich spontan eingeladen werde. Aber auch dann studiere ich erst einmal die Menükarte und picke mir die gesündeste Alternative raus. Aber ganz ohne Gedankenzirkus essen? Ich glaube nicht, dass das nochmal eintreten wird."

Abendessen: Rucola mit 10 Gramm Sonnenblumenkernen, 10 Gramm Parmesan, Tomate, Ei und Joghurt

*Lara und ihre Geschichte sind real. Die Redaktion hat ihren Namen geändert.