Dieser Text ist Teil einer Kolumnenserie für ze.tt crime. Eine Anwältin, eine Gefängnisarchitektin und eine Rechtsmedizinerin berichten über ihren Berufsalltag, Themen, die sie beschäftigen und kuriose Fälle. Dieses Mal schreibt die Anwältin Jennifer Leopold, die in einer Kanzlei in Düsseldorf arbeitet.

Unsere Kanzlei vertrat einmal einen Mandanten, dem vor Gericht eine psychische Krankheit attestiert wurde. Daraus ergab sich für die Richter*innen, dass er schuldunfähig sei. Aus Gründen des Persönlichkeitsrechts kann ich hier nicht näher auf die Details eingehen. Entscheidend war jedoch, dass er aufgrund seiner Schuldunfähigkeit nicht ins Gefängnis kam, sondern in ein psychiatrisches Krankenhaus. Das ist in solchen Fällen üblich, hatte im konkreten Fall jedoch sehr weitreichende Folgen.

So eine Unterbringung hat nämlich, anders als der Strafvollzug im Gefängnis, kein Enddatum. Sie dauert so lange, bis das Krankenhaus und die Strafvollstreckungskammer überzeugt sind, dass von der Person keine Gefahr mehr ausgeht oder die Unterbringung auf Grund der inzwischen vergangenen Zeit unverhältnismäßig geworden ist. Laut Gesetz sind das zehn Jahre. In der Praxis werden solche Entscheidungen jedoch oft bis über die Grenze der Verhältnismäßigkeit hinausgezögert.

Zu groß ist die vermeintliche Gefahr, dass Untergebrachte nach ihrer Entlassung rückfällig werden. Keine Strafvollstreckungskammer und kein Krankenhaus will sich dem Vorwurf aussetzen, gefährliche Individuen zu früh zurück in die Gesellschaft entlassen zu haben. Es gibt zwar gesetzlich vorgeschriebene Kontrollmechanismen. Da gibt es zum einen eine in der Regel jährliche Kontrolle. Mit dieser soll geprüft werden, ob die Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt oder für erledigt erklärt werden kann. Dann ist alle zwei, beziehungsweise drei Jahre, eine Stellungnahme von externen Gutachter*innen vorgesehen. Diese bestätigt aber oft nur die ursprüngliche Unterbringungsentscheidung – und nicht selten in denselben Worten.

Dies verwundert insofern nicht, da Gutachter*innen Mangelware sind und viele sich daher nur eine Stunde lang mit den Untergebrachten unterhalten und so dann ihr Gutachten anfertigen. Eine ausführliche und kritische Evaluation scheint unter solchen Gesichtspunkten selten möglich.

Zu Unrecht im psychiatrischen Krankenhaus

Auch unserem Mandanten ging es so. Er war bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Die regelmäßigen Stellungnahmen und Begutachtungen wiederholten sich auch inhaltlich bereits mit ebensolcher Regelmäßigkeit. Dann hatte er jedoch Glück. Ihm wurde turnusmäßig ein neuer, externer Gutachter zugewiesen. Dieser nahm sich mehrere Stunden Zeit für ein Gespräch mit unserem Mandanten. Er kam zum Entschluss, dass dieser überhaupt keine psychische Erkrankung aufwies.

Unser Mandant hatte also ohne Grund Lebenszeit in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht.

Dann wurde es hektisch. Sowohl das Gericht als auch das Krankenhaus waren durch das neue Gutachten in helle Aufruhr versetzt worden. Also wurde sogleich ein zweiter Gutachter mit dem Fall betraut. Er kam zum gleichen Schluss. Mit einem Mal ließ nun auch das Krankenhaus verlautbaren, dass man sich wohl geirrt habe und sich vorbehaltlos den neuen Einschätzungen anschließe.

Entschädigung für zu Unrecht in Haft verbrachte Zeit: 25 Euro am Tag

Unser Mandant hatte also ohne Grund Lebenszeit in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht – und nicht ein paar Monate, sondern Jahre. Natürlich hatte er nach seiner Entlassung Schadensersatzansprüche. Doch diese helfen ihm wenig.

Den Schaden, der durch eine über zehn Jahre vollkommen nutzlose Therapie angerichtet wurde, wird er wohl seines Lebens nicht mehr beheben können. Das Gesetz sieht zudem für einen Tag unrechtmäßig verbüßte Haft lediglich eine Entschädigung von 25 Euro vor. Die dringend notwendige Erhöhung auf 75 Euro hat bereits den Bundesrat passiert, ist aber noch nicht in Gesetzesform gegossen. Weitergehende Ansprüche, wie zum Beispiel Schmerzensgeld, sind zwar denkbar, Amtshaftungsprozesse sind aber oft äußerst langwierig und die Aussicht auf Erfolg ist gering.

Ähnlichkeiten zum Fall Mollath

Der Fall weist Parallelen zum Justizskandal Mollath auf. Gustl Mollath war 2006 wegen mehrerer ihm vorgeworfenen Delikte und einer durch Gutachter*innen festgestellten Schuldunfähigkeit in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen worden. Im Jahre 2014 wurde er nach einem erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren und mehr als sieben Jahren Haft in einem psychiatrischen Krankenhaus freigesprochen.

Der Strafverteidiger Gerhard Strate, der Mollath in dem Wiederaufnahmeverfahren vertrat, schrieb in seinem 2014 erschienenen Buch Der Fall Mollath – Vom Versagen der Justiz und Psychiatrie:

"Der unmittelbare Einfluss, den forensisch-psychiatrische Gutachten auf Gerichtsentscheidungen ausüben, sollte die Gesellschaft hellhörig machen: Liegt dem Gericht die Aussage eines Sachverständigen vor, geschieht es höchst selten, dass es gegen den gutachterlichen Rat entscheidet oder die Ausführungen zumindest kritisch hinterfragt." Auch der Maßregelvollzug selbst sei ein konturloses Gebilde, schreibt Strate. Es gelte zwar offiziell nicht dem Strafvollzug, sondern angeblicher Therapie. Von manchen Betroffenen würde es jedoch als weitaus schlimmer erlebt als eine Gefängnisstrafe.

Der Fall hatte eine Debatte über die Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug ausgelöst und führte zu Gesetzesänderungen. So wurde unter anderem die Frequenz der Überprüfung erhöht und ein häufigerer Wechsel von Gutachter*innen beschlossen. Unserem Mandanten haben diese Änderungen nicht vor einer unrechtmäßigen Unterbringung bewahren können.

Wie Fehlentscheidungen verhindert werden könnten

Den Menschen, die Gesetze beschließen, ist bewusst, dass menschliche Entscheidungen fehleranfällig sein können. Aus diesem Grund besteht die Möglichkeit, grundsätzlich jede erstinstanzliche Entscheidung von einem Gericht höherer Ordnung überprüfen zu lassen. Dieses Gericht ist dann auch mit mehr Richter*innen besetzt als das erstinstanzliche Gericht. Durch die Entscheidung eines mit mehreren Richter*innen besetzten Gerichts, soll unter anderem der Einfluss von persönlichen Wertvorstellungen auf Entscheidungen vermindert werden.

Unter Kolleg*innen herrscht Einigkeit, dass nirgendwo so viel schief läuft wie im Maßregelvollzug.

Meiner Meinung nach könnte man diese Überlegungen auch auf die Entscheidungen von psychologischen Gutachter*innen übertragen. Der Druck, sich mit einem Gutachten gegen die bisherigen Ergebnisse von Kolleg*innen zu wenden, würde in einem Gremium auf alle Handelnden verteilt und wäre so besser zu schultern.

Auch wenn die Schicksale von Mollath und unserem Mandanten keineswegs alltäglich sind, so sind sie auch nicht die absolute Ausnahme. Unter Kolleg*innen herrscht Einigkeit, dass nirgendwo so viel schief läuft wie im Maßregelvollzug.

Unser Rechtssystem hat den Anspruch, dass lieber jemand, der schuldig ist, freigesprochen wird, als dass ein unschuldiger Mensch verurteilt wird. Das Gleiche sollte auch für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gelten.