"Muss das denn wirklich sein? Ein Gymnasium?" Was für mich total klar war, fanden meine Eltern nicht notwendig. Meine Brüder waren doch auch auf die Realschule gegangen – warum sollte mir das nicht genügen? Der Weg zum Gymnasium war sehr viel länger, niemand aus unserem Dorf fuhr morgens mit dem Bus in die Gymnasium-Stadt. Realschule, das war gut und irgendwie normal. Das war richtig. Dass ich wirkliches Interesse an gymnasialen Lehrinhalten hatte, lag außerhalb des dörflichen Horizonts. Ich erkämpfte mir also mit einer Gymnasialempfehlung das Gymnasium.

In einer Sonderauswertung der Pisa-Studien zwischen 2006 und 2015 der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, heißt es nun: In Deutschland entscheidet die soziale Herkunft weiter maßgeblich über den schulischen Erfolg von Kindern und Jugendlichen. Mich als Arbeiter*innenkind wundert das nicht. Auch nicht, dass es weiterhin so ist. Denn jetzt bin ich Mutter und muss in den nächsten Monaten entscheiden, in welcher Schule mein Kind im kommenden Sommer eingeschult werden wird. Mir fällt die Entscheidung leicht. Mein Kind freut sich schon jetzt auf den kurzen Schulweg: "Kann ich schon am ersten Tag allein in die Schule gehen?" Die nächste städtische Schule ist direkt in unserer Nachbarschaft – mir fällt kein plausibler Grund gegen diese Schule ein.

Warum mein Kind nicht auf eine Privatschule geht

Für fast alle anderen Eltern, mit denen ich über die Schulwahl unserer Kinder spreche, ist das anders. "Was, auf diese Schule!? Wirklich?", schauen sie mich entsetzt an. Die Schule ist eine Kiez-Schule. Eine Kiez-Schule in Berlin-Kreuzberg. Noch vor einigen Jahren hatte sie einen Anteil von Kindern mit sogenanntem Migrationsanteil von 90 Prozent. Ich weiß das, weil ich damals als ehrenamtliche Lesepatin aushalf. Für ein paar Kinder war ich die erste Person, die mit ihnen ein deutschsprachiges Bilderbuch gelesen hat. Der sogenannte Migrationsanteil der Schüler*innen sinkt allmählich. Trotzdem hörte ich gerade beim Tag der offenen Tür, wie eine der potenziellen Neu-Mütter einer anderen zuflüsterte: "In einer Klasse gibt es nur ein deutsches Kind." Ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, fanden das beide ziemlich unerhört. Mal abgesehen davon, dass sie die Bezeichnung "deutsches Kind" nicht genauer definierten.

Die OECD-Studie zeigt, dass Kinder aus sozial benachteiligten und begünstigten Familien selten auf die gleichen Schulen gehen. Für Nachwuchs aus Familien, die von Armut betroffen sind und für Kinder von Einwander*innen sei es schwer, durch Bildung gesellschaftlich aufzusteigen. Die Eltern, die sich beim Tag der offenen Tür Dinge übers Deutschsein und unter sich bleiben zuflüstern, sorgen dafür, dass das genau so bleibt. Sie schicken ihre Kinder auf private Schulen, auf freie Schulen, auf Waldorfschulen. Wo ihre Kinder und sie selbst unter sich bleiben. Dort gibt es dann in einer Klasse einen Platz für ein Kind aus einer geflüchteten Familie – neben fünfzehn Kindern aus akademischen Haushalten. Inklusion sieht anders aus.

Inklusion endet anscheinend immer noch genau da, wo das eigene Kind vermeintliche Nachteile davon haben könnte. Dabei zeigen viele Studien, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Und vor allem, dass Kinder meistens kein Problem haben mit unterschiedlichen Kulturen oder anderen menschlichen Unterschieden – im Gegensatz zu ihren Eltern. "Inklusion macht schlau", sagt der Hirnforscher Gerald Hüter, "da heterogene Gruppen komplexere soziale Situationen und somit vielfältigere Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten bieten." Das gemeinsame Lernen fördert soziale Fähigkeiten, Toleranz und das Gefühl der Anerkennung. Die deutschen, akademischen Eltern scheint das noch immer zu verunsichern.

Inklusion endet da, wo das eigene Kind vermeintliche Nachteile haben könnte.

Denn die Realität in Deutschland sieht – noch – anders aus. Knapp 15 Prozent der Erwachsenen mit Eltern ohne Abitur erreichen ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Im Durchschnitt der meisten OECD-Länder sind es 21 Prozent. In Deutschland gebe es immer noch eine große Leistungsschere, sagt der OECD-Direktor für Bildung, Andreas Schleicher. Solange die Familien, für die Bildung selbstverständlich ist, weiterhin unter sich bleiben wollen, wird sich nichts daran ändern. Und nein, mein Kind soll die Fehler des deutschen Bildungssystems nicht auf seinen Schultern tragen müssen. Aber erst mal versuchen, ob es klappen kann, das sehe ich als unsere privilegierte Pflicht an. Institutionen von innen heraus ändern, bleibt weiterhin eine Option.

Für das gemeinsame Lernen von unterschiedlichsten Schüler*innen braucht es Ressourcen, auch das wird in der Studie klar. Schleicher rät der Politik dazu, Schulen in sozialen Brennpunkten stärker zu unterstützen – dort müssten mehr Lehrkräfte eingestellt werden. Eine andere und sehr wichtige Ressource sind aber auch Familien aus dem akademischen Milieu.

Mit mir im Bus fuhr irgendwann Lena zur Schule. Sie war mit ihrer Familie aus Spanien in unser Dorf gezogen. Ihre Eltern Lehrer*innen, ihr liebsten Hobbys lesen und musizieren. Mir wurde klar, dass es Möglichkeiten gibt. Für Lena – und für mich. Mein Horizont erweiterte sich. Vielleicht kann mein Kind mal eine Lena für ein anderes Kind sein. Das wäre doch ein Anfang von Chancengerechtigkeit.

Alle Texte der Kolumne Klein und groß.